Max Gallo: Robespierre, Stuttgart: Klett-Cotta 2007, 288 S., ISBN 978-3-608-94465-5, EUR 26,00
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Wer versehentlich das Kleingedruckte des Impressums überblättert hat oder mit dem Namen des Autors nicht sofort etwas anzufangen weiß, muss sich über mehr als 260 Seiten traditioneller Biografik plagen und wird erst im Nachwort aufgeklärt, dass er es mit einem Longseller des französischen Büchermarktes zu tun hat, der 1968 erstmals erschien und fortan zwar verschiedentlich leicht verändert, aber niemals an den Forschungsstand angepasst wurde. Geboten wird ein Psychogramm Robespierres, das ihn als überehrgeizigen "Prinzipienreiter" zeigt und - allgemeiner gesprochen - der nicht ganz neuen Frage nach dem Platz der "großen Männer" in der Geschichte nachgeht.
Gleich die Auftaktszene ist dem Tod des Jakobiners gewidmet und leitet auf das Grundmotiv von Gallos Robespierrebild hin - tragisches Scheitern an nicht zu verwirklichenden Idealen, die nur das Dilemma von gewaltbereiter Überhöhung und daraus resultierender Einsamkeit hervorbringen konnten. Konsequenterweise trug das Original auch den Titel "Der Mensch Robespierre - Geschichte einer Einsamkeit".
Was den Autor, der seit vielen Jahrzehnten zwischen Politikerkarriere und Schriftstellerlaufbahn changiert, besonders faszinierte, war das "grundlegende Problem [...] der Beziehung zwischen den politischen Entscheidungen eines Menschen und den tiefen Determinanten, die ihn dazu bringen, nicht unbewusst unter den unzähligen Möglichkeiten, die die Geschichte ihm bietet, für eine ganz bestimmte zu entscheiden, und seinen Taten einen ganz bestimmten Charakter zu geben, der, ohne die Grundlinien seiner Politik oder der geschichtlichen Periode zu ändern, doch das Schicksal von Tausenden von Menschen bestimmt." (16).
Diese Frage nach Epochencharakter und individuellem Handlungsspielraum, nach Struktur und Ereignis wirkt 40 Jahre nach dem Ersterscheinen dieses Buches nicht mehr allzu aufregend, und der sich dahin "schlängelnde" narrative Strom bietet genaugenommen auch keine überzeugende Antwort auf die selbst gestellte Aufgabe, sondern vor allem die Variierung des weithin Bekannten zur Person Robespierres, wohin gegen die gerade in den 1950er und 1960er Jahren sprudelnden Erkenntnisse über Sansculotten und montagnardische Bourgeoisie den Autor wenig beeindruckt zu haben scheinen. Dass er spätere Forschungsergebnisse nicht berücksichtigt, wird man einem zügig schreibenden Erfolgsautor für einen Massenmarkt wahrscheinlich nicht verübeln können, aber auch 1968 war dieser Robespierre wohl schon nicht mehr der Stand der Historiographie.
Alles wird dem Verfasser zur personalisierten Konfrontation leidenschaftlicher Exponenten. Wofür sie allerdings Exponenten waren, bleibt von erheblicher Ungenauigkeit. Den Begriffsoppositionen wie "reiche Bourgeoisie" versus "revolutionäre Bourgeoisie" (etwa 199f.) ist weder sozial- noch kulturhistorische Tiefenschärfe eigen, und allzu rasch nimmt der Verfasser wieder Abschied von solchen Erklärungen, um sich erneut ausführlich seinem Zentralmotiv, der Todessehnsucht eines Egomanen, zuzuwenden.
Leider wird der Abstand des Buches auch schon zum Diskussionsstand der späten 1960er Jahre im Nachwort auf allzu euphemistische Weise verdeckt, wenn es heißt: "Als gelernter Historiker kann er sich auf eine reiche Materialbasis stützen, aber er verzichtete bewusst auf jeden gelehrten Apparat und jede innerwissenschaftliche Debatte." (282) Die vollständige Vernachlässigung der Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte wird so geradezu zum "psychohistorischen Experiment" geadelt, und der Leser erfährt zum Schluss sogar noch, dass Gallo "manche Forschungsthemen des frühen 21. Jahrhunderts vorweggenommen" habe, indem er die Rolle von Symbolen und den Medienpolitiker Robespierre entdeckte. (283)
Ganz so schlimm scheint es mir um die neuere Kulturgeschichte der Französischen Revolution nun doch nicht zu stehen, die das hier angesprochene Feld längst systematisch und nicht zuletzt auch nachvollziehbar unter Benutzung eines gelehrten Apparates bestellt.
So bleibt die Frage, worin sich diese Übersetzung ganz außerhalb aller Jubiläumsanlässe begründet. Soll man sie als erstes Anzeichen einer Erholung des Buchmarktes ansehen, der anlässlich des Bicentenaire dermaßen überschwemmt worden war, dass die Begeisterung von Verlegern für das noch immer populäre Sujet der Revolutionsgeschichte kaum wieder gewinnbar schien? Verweist sie vielleicht gar auf eine Renaissance ernsthafter Forschung zur Französischen Revolution in der deutschen Historiographie, die sich nach dem Geldsegen der Stiftungen in den späten 1980er Jahren nur noch in Nischen wiederfindet?
Oder sollte sich die folgende Vermutung als plausibel herausstellen? Ein Blick auf die Kataloge des Vorhandenen mag den misslichen Umstand gezeigt haben, dass die (ebenfalls methodisch durch und durch konservative) Robespierre-Skizze des sowjetischen Historiker A. Z. Manfred angesichts ihrer hohen Auflage in der DDR noch immer den Antiquariatsmarkt beherrscht, während andererseits kein deutscher Historiker in Sicht ist, der sich an eine wirklich anspruchsvolle Robespierre-Biographie wagen könnte. Dann wäre mit der vorliegenden Übersetzung immerhin eine Fehlstelle besetzt, wenn auch ungenügend.
Folgt man dieser Vermutung, so hätte dieser Band vielleicht weniger mit seinem französischen Original als mit der allzu knappen Basis der Revolutionsgeschichtsschreibung hierzulande zu tun. Gerade Max Gallo bietet sich für ein solches Vorgehen aber auch an, denn seine Präsenz auf dem französischen Buchmarkt wird von der Verlagswerbung flugs zu einer prominenten Rolle in der Revolutionsforschung umgedeutet; seine flotte Schreibe befriedigt das Bedürfnis nach dem historischen Roman ohne alle postmodernen "Mätzchen", und sein Schreibgestus lässt den Verlag jubilieren: Für mehr als zwei Jahrhunderte ist der Jakobiner "mehr als alle anderen Figuren seiner Zeit angefeindet wie verherrlicht und ideologisch vereinnahmt worden. Max Gallo schildert den wahren Robespierre." (http://www.klett-cotta.de/geschichte_buecher_e.html?&tt_products=2020)
Nun ist es einem Verlag unbenommen, seinem Publikum solche Versprechungen zu machen, die in ihrer Übertreibung durchsichtig genug sind, um nicht allzu ernst genommen zu werden. Leider hilft aber das Nachwort aus der Feder hochqualifizierter Historiker dem Leser nicht wirklich bei der Einordnung dieser Lobpreisung. Statt einer präzisen und fußnotenbereicherten Skizze zur Erforschung der Biographie Robespierres und des Jakobinismus in Frankreich erhält er nur einen Abriss der allgemeinen Revolutionshistoriographie mit einer Schlagseite hin zu politischen Urteilen über die behandelten Strömungen, die man teilen kann, aber nicht muss. Die Erzählung von der langen Herrschaft der marxistischen Sozialgeschichte unter Albert Soboul und der befreienden Wirkung des von François Furet angetriebenen Revisionismus nebst dem Addendum von der kultur- und mentalitätsgeschichtlich inspirierten Erlösung durch den "Häretiker" Michel Vovelle im Moment des Bicentenaire ist seit rund zwanzig Jahren beinahe unverändert in Umlauf und kann inzwischen mit gutem Gewissen als "Vulgata" bezeichnet werden, um einen Vorwurf, den Furet gegen eine allzu hermetische Version der Revolutionsgeschichte erhob, umzukehren. Sie hat mit der Differenziertheit der Forschungslandschaft naturgemäß wenig zu tun, aber als populäre Kurzversion hat sie die Einprägsamkeit für sich.
Diese Saga hier noch einmal zu wiederholen, mag vielleicht zu Illustrationszwecken angemessen erscheinen, denn auf diese Weise wird noch einmal der ideologische Kontext erinnert, in dem Gallo sein Werk Ende der 1960er Jahre verfasst hat. Nur wäre sie dann auch in dieser Funktion zu kennzeichnen.
Dem Leser im 21. Jahrhundert wäre aber vielleicht mehr geholfen, wenn er auch erfahren würde, welche neuen Forschungen es mittlerweile etwa zur Soziabilität während der Revolution, zur Mediengeschichte, zur politischen Kultur, zum Eigentumstransfer des Nationalgüterverkaufes, zur Rolle der Kolonien im Kräfteparallelogramm der Revolutionslager, zu Krieg und Propaganda oder zu den grenzüberschreitenden Wirkungen und Perzeptionen gegeben hat, um ermessen zu können, welche Partialgewissheiten ihm in dieser späten Übersetzung als "wahrer Robespierre" verkauft werden. Denn all diese Kontexte haben den Spielraum des "Unbestechlichen" in einer Weise bestimmt, die der Prägung durch Kränkungen in der Kindheit oder einen Spiegel zuviel in der Wohnung der Familie Duplay mindestens ebenbürtig ist.
Matthias Middell