Anja Freckmann: Die Bibliothek des Klosters Bursfelde im Spätmittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 634 S., ISBN 978-3-89971-271-1, EUR 72,00
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In ihrer Göttinger Dissertation untersucht Anja Freckmann die Geschichte der Bibliothek des Klosters Bursfelde im Spätmittelalter. Bursfelde war ein wichtiges Zentrum der monastischen Reform- und Observanzbewegung des 15. Jahrhunderts. Es bietet sich besonders für bibliotheksgeschichtliche Untersuchungen an, da das Mutterkloster als Mittelpunkt einer Reformkongregation für die Kommunikation innerhalb des Verbandes zuständig war, worunter auch Bücheraustausch und Vorgaben über Buchproduktion und Bibliothekspraxis gehörten. Der Zusammenhang von Reform, Buchproduktion und monastischem Lektüreverhalten, ist in der Forschung wiederholt betont worden. Anja Freckmann widmet sich diesem Feld mit einer bibliotheksgeschichtlichen Untersuchung und benennt selbst zu Beginn die Grenzen der Erkenntnis: auf das tatsächliche Lektüreverhalten, auf die gelebte und individuelle Frömmigkeit kann aus Bibliotheksbeständen nicht geschlossen werden.
Ziel ihrer Arbeit ist es daher, aus den erhaltenen Beständen das geistige Profil einer Gemeinschaft herausarbeiten. Anja Freckmann bietet dabei eine Querschnittsanalyse für den Zeitraum 1440-1520, denn mit der Reformation änderten sich Buchinhalte grundlegend.
Bei der Ermittlung des Bibliotheksbestands stößt man auf ein Überlieferungsproblem, denn aus Bursfelde ist kein zeitgenössischer Bibliothekskatalog erhalten. Die Rekonstruktion stützt sich daher methodisch auf Ermittlung einschlägiger Kriterien wie Besitz- und Schenkungseinträge, Schreibernotizen, Bucheinbände und Stempel.
In der Einleitung bietet Anja Freckmann eine kurze Geschichte des Klosters und seiner Bibliothek zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg. Der erste, sehr umfangreiche Teil der Arbeit besteht aus einem Katalog der Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke (37-202).
Im zweiten Teil (205-328) untersucht sie den Aufbau und die Entwicklung der Bursfelder Bibliothek, sie behandelt Verwaltung, Aufbewahrung, Nutzung und Bestandsaufbau. Hier finden sich auch sehr detaillierte Ausführungen zu Einbänden und Stempeln, die zu interessanten Ergebnissen führen, aber nicht unbedingt leserfreundlich wirken (270-328 zu Einbänden).
Im dritten und letzten Teil widmet sich Freckmann der monastischen Gelehrsamkeit im Spiegel der Bursfelder Bibliothek. Hier bietet sie eine gelungene und beeindruckende Profilanalyse (331-403).
Der Anhang mit Literaturverzeichnis und Register umfasst allein 200 Seiten und erschließt die untersuchten Handschriften ausführlich.
Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine Mischung aus Nachschlagewerk und Untersuchung. Das macht die Lektüre nicht immer zu einem reinen Vergnügen, in ihren analytischen Teilen bietet Anja Freckmann aber wichtige Ergebnisse. Sehr aufschlussreich ist ihre Untersuchung der normativen Vorgaben zur Bibliothek in der Bursfelder Kongregation und der Vergleich mit mittelalterlichen Bibliotheksordnungen anderer geistlicher Gemeinschaften und Orden. Durch diese Vorgehensweise wird die Rezeption verschiedener älterer und zeitgenössischer Reformrichtungen deutlich. In dem Kapitel der Bursfelder Ceremoniae über das Bibliotheksamt etwa treffen benediktinische und augustinische Traditionen aufeinander, die Leitfäden für die praktische Umsetzungen sind jeweils einflussreichen Reformrichtungen entlehnt (219). Die Bestimmungen bezüglich der Auswahl und Ausgabe der Fastenlektüre zeigen eine klare Beeinflussung durch den zisterziensischen Liber usuum (218), die Trennung der Ämter des Kantors und des Bibliothekars weist auf eine Abhängigkeit von den Windesheimer Statuten hin (211). Am Rande lassen sich Entlehnungen aus den Statuten des Dominikanerordens unter Humbert von Romans erkennen, die wiederum auf die Statuten des Chorherrenstifts von St. Viktor zurückgehen.
Die Bewertung des Einflusses dieser Strömungen generell, auf die Abfassung der Bursfelder Statuten und für die Beschlüsse des Generalkapitels (zisterziensischer Einfluss etwa bei dem Aufbau des Generalkapitels als erstes zentralisiertes benediktinisches Verfassungsorgan) bindet Anja Freckmann nicht in ihre Untersuchung ein.
Sie konzentriert sich hingegen auf die Bibliothekspraxis, auf die Größe, Ausstattung und den Bestandsaufbau (220-270). Die Bursfelder Bibliothek erreichte mit einem Umfang von 521 Bänden eine mittlere Größe. Ein erhaltenes Ausleihverzeichnis spiegelt eine liberale Ausleihpraxis an auswärtige Mitbrüder wider, die wohl wesentlich in deren Zugehörigkeit zu einem Mitgliedskloster der Bursfelder Kongregation begründet war. Vielleicht dienten die ausgeliehenen Bücher als Vorlage zur Anfertigung einer Abschrift. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Mitgliedsklöstern der Bursfelder Kongregation erfolgte offenbar auch über den Austausch von Büchern. Auch hier bieten sich weitere Untersuchungen zur Kommunikationspraxis in einer Reformkongregation an.
Die Verbindung zwischen der Ausstattung der Bibliothek und der Denk- und Lebensweise in Bursfelde selbst kann Anja Freckmann anschaulich zeigen: Der rekonstruierte Bestand vermittelt das Bild einer typischen spätmittelalterlichen Klosterbibliothek, die unter dem Einfluss der zeitgenössischen Observanzbewegung stand, es dominierte asketisch-erbauliche Literatur (239).
Diese Rekonstruktion des spätmittelalterlichen Bursfelder Bibliotheksbestands gelingt Anja Freckmann zum großen Teil auf Basis ihrer einbandkundlichen Studien.
Den Zusammenhang von monastischen Konzepten und Lektüreverhalten in Bursfelde untersucht sie im abschließenden Teil ihrer Arbeit.
Die benediktinische Lektüre- und Meditationspraxis und das monastische theologische Wissenschaftsverständnis benennt sie als die zentralen Antriebskräfte, die das Sammelprofil der Bursfelder Bibliothek prägten (402).
Die Bibliotheken der Bursfelder Mitgliedsklöster dienten nicht als wissenschaftlich ausgerichtete Sammlung, sondern waren ausgerichtet auf die geistlichen Anforderungen einer reformierten Ordensgemeinschaft (342). Die Bücher für die in Bursfelde bedeutsame private Andacht wurden vom Prior oder Kantor zugeteilt. Die verteilte Lektüre bestand aus Kirchenväterschriften, Werken monastischer Theologen des 12. Jahrhunderts und Reformschrifttum des 15. Jahrhunderts. Insgesamt zeichnet sich ab, dass Texte von Autoren bevorzugt wurden, die für die Öffnung schwieriger Glaubensinhalte für den einfachen Mönch standen. So zeugt der Bestand der Bursfelder Bibliothek von einer umfassenden Rezeption des Werkes von Johann Gerson. Seine Schriften wurden ins Lateinische übersetzt; die Rezeption dieser ursprünglich volkssprachigen Texte zeigt, wie sehr sich die geistlichen Bedürfnisse von reformierten Ordensangehörigen und lateinunkundigen Laien, die ja in erster Linie Adressaten dieser Traktate waren, angenähert hatten (391). Die Bursfelder waren bei der Auswahl von Schriften des 15. Jahrhunderts offen für ordensübergreifendes Reformschriftgut, große Bedeutung kam kartäusischen Werken zu, es finden sich hingegen vergleichsweise wenige Schriften von benediktinischen Reformtheologen.
Mit ihren Ergebnissen wirft Anja Freckmann Fragen auf nach dem spezifischen Charakter der Bursfelder Kongregation innerhalb der "Reformlandschaft" des 15. Jahrhunderts. Wie groß waren die Unterschiede zwischen den augustinischen Chorherren der Windesheimer Kongregation, den Benediktinern von Bursfelde und anderen monastischen Richtungen wie der Melker Reform auf der einen und Laienbewegungen auf der anderen Seite - ist das Leseverhalten, das theologische Verständnis von Lektüre ein Distinktionsmerkmal? Welche Einflüsse hatten Reformströmungen des 12. und des 15. Jahrhunderts auf die normativen Vorgaben und die Praxis in Bursfelde und den Tochterklöstern? Diese und andere wichtige Impulse gibt Anja Freckmann mit ihrer Arbeit. Leider fasst sie ihre Ergebnisse, die zur Weiterbeschäftigung einladen, am Schluss nicht zusammen. Die Teilergebnisse muss man als Leser am Ende der jeweiligen Abschnitte suchen, wo die deskriptiven Teile oftmals unverbunden neben den Analysen stehen, so dass am Ende leicht der Eindruck eines fehlenden roten Fadens entsteht. Doch dieser Umstand ist auch der umfassenden bibliotheksgeschichtlichen Vorgehensweise Anja Freckmanns geschuldet, die mit ihrer Dissertation aber im besten Sinne Grundlagenarbeit geleistet hat und viele Anknüpfungspunkte für weitergehende vergleichende Untersuchungen zur Geschichte der Reformbewegungen im 15. Jahrhundert bietet.
Christine Kleinjung