Stéphane Dufoix: Diasporas. Translated by William Rodarmor, Oakland: University of California Press 2008, 136 S., ISBN 978-0-520-25360-5, GBP 12,95
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Stéphane Dufoix schreibt im Vorwort, das vorliegende Buch (das in etwas kürzerer Fassung 2003 auf französisch in der Reihe "Que sais je" erschien) habe "a somewhat schizophrenic character". Es handele von "Diaspora", sei aber von einem Autor verfasst, der an die Nützlichkeit von Diaspora als Forschungsbegriff nicht glaube. Nach der Lektüre von rund 100 Seiten luzidem und konzisem Text weiß man garantiert etwas über Diaspora, was man vorher nicht gewusst hat, und man wird vermutlich die Skepsis des Autors im doppelten Sinne teilen: gegenüber der Nützlichkeit des Begriffs als analytischem Instrument, und gegenüber der Annahme, dass der Begriff bald durch andere ersetzt werden wird.
"Diaspora" ist ein alter Begriff, dessen Karriere als Beschreibung einer zerstreuten Bevölkerung Dufoix mit der Bibelübersetzung der Septuaginta beginnen lässt. Aus der Bezeichnung für die Orte, an denen ein strafender Gott eine frevelnde jüdische Bevölkerung zerstreut, wird bald ein Name für diese Bevölkerung. Erst in den 1970er Jahren beginnt aber die sozialwissenschaftliche und politische Konjunktur des Begriffs, der von nun an auf fast alle nationalen Gruppen überall auf der Welt Anwendung finden kann.
Warum das so ist, zeigt Dufoix an einem Vergleich von jüdischer und schwarzamerikanischer Diaspora, wo der begriffliche Transferprozess bereits im frühen 20. Jahrhundert geleistet wurde, ohne breite Resonanz zu finden. Sodann widmet sich Dufoix unterschiedlichen Definitionen von Diaspora in wissenschaftlichen Werken, die er als "offen", "kategorial", "widersprüchlich" bezeichnet, in wissenschaftlichen Debatten und im politischen Diskurs.
Im Kern bezeichnet Diaspora die Bewegung einer Bevölkerung in einem Raum - daher illustriert Dufoix in einem nächsten empirischen Schritt unterschiedliche Migrationserfahrungen in verschiedenen Epochen bei Griechen, Indern, Chinesen und Armeniern. Hier beginnen laut Dufoix die Probleme des Begriffs, überdeutlich zu werden. Zunächst einmal bezeichne Diaspora einen dynamischen Prozess als implizit statisch gedachten (End-)Zustand der Zerstreuung. Sodann sei die Bedeutung des Begriffs instabil. Er könne (im selben Text) eine von außen ethnisch definierte Gruppe (z. B. alle Auslandschinesen) ebenso bezeichnen wie eine ethnokulturelle Gemeinschaft, eine ethnische Minderheit in einem Land, einen Modus der Migration, eine Befindlichkeit oder einen geographischen Raum, in dem sich eine bestimmte Bevölkerung verteilt hat. Dahinter sieht Dufoix drei implizite Annahmen, die aber bei näherem Hinsehen Illusionen seien: die Illusion, es gebe eine Essenz von (etwa) Ethnizität, eine Gemeinschaft "der" Diaspora, schließlich die Annahme einer Kontinuität des Phänomens, der doch eigentlich die Erkenntnis der Historizität aller menschlichen Erfahrungen gegenüberstehe.
Die sinnvolle Untersuchung einer Diaspora erfordert also ein analytisches Konzept der Beziehungen zwischen Individuen, Staat, vermeintlichem Herkunftsort, möglichen politischen Vertretungen einer ethnischen Gruppe. Systematische Möglichkeiten einer solchen Analyse stellt Dufoix in seinem dritten Kapitel vor, das zugleich empirische Beispiele für die dynamische Konstruktion von Beziehungen in Räumen durch verschiedene Gruppen aus politischen, ökonomischen oder religiösen Motiven zu unterschiedlichen Zeiten liefert.
Das vierte Kapitel fragt nach den Ursachen der Attraktivität des Diaspora Begriffes. Dufoix schlägt vor, das Konzept als einen Versuch der Überwindung von Distanz zu verstehen. Dabei verweist er vor allem auf die politischen Interessen von Auswanderungsländern oder Ländern mit einer großen Gemeinschaft, die sich als Diaspora versteht, an der Pflege und Benennung ökonomischer, politischer und nationaler Beziehungen. Dazu kommen die in Zeiten von Internet und Globalisierung wachsenden Möglichkeiten, sich wechselnde, mehrfache Identitäten zu geben und sich so ganz oder zum Teil aus der dominanten Gesellschaft auszugrenzen oder von realen historischen Entwicklungen abzusetzen - so dass Diaspora auch eine Lebenserfahrung spiegeln könne. Gerade diese Entwicklungen machten es schwierig, so das Fazit, den Begriff durch einen analytisch schärferen und daher wissenschaftlich nützlicheren zu ersetzen.
So ergibt sich ein weiteres Element des Buches, das man als paradox bezeichnen könnte: Die Kritik an mangelnder analytischer Schärfe und fehlender historischer Kenntnis der Diaspora-Diskussion wird hier in mustergültiger Präzision und auf der Grundlage sehr breiter Kenntnisse der Migrationsgeschichte und ihrer Erforschung vorgetragen. Es handelt sich um ein überaus lesenswertes Buch, das eine Rezeption weit über den Lehrbuchmarkt hinaus verdient.
Andreas Fahrmeir