Matt Erlin: Berlin's Forgotten Future. City, History, and Enlightenment in Eighteenth-Century Germany (= University of North Carolina. Studies in the Germanic Languages and Literatures; 127), Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2004, xi + 216 S., ISBN 978-0-8078-8127-9, GBP 26,50
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Mit seiner kulturgeschichtlichen Studie knüpft Matt Erlin an zwei Entwicklungen der jüngeren Aufklärungsforschung an: Zum Einen an die seit Reinhart Kosellecks grundlegenden Arbeiten virulenten Fragen zur Entstehung des modernen historischen Bewusstseins in der Aufklärung, d. h. die These von der Verzeitlichung des Denkens und ihren unterschiedlichen Ausprägungen, zum Anderen an die im Zusammenhang mit dem 'spatial turn' in der neueren Aufklärungsforschung zunehmend zum Gegenstand der Reflexion gemachte kulturräumliche Ausdifferenzierung unterschiedlicher Aufklärungsformen und die Konzentration auf konkrete Erfahrungsräume der Aufklärung. Es sind nach Erlin insbesondere zwei Probleme, die in den letzten Jahren im Zusammenhang mit Kosellecks Verzeitlichungsthese ungelöst blieben und unvermindert zur kritischen Diskussion angeregt haben: (1.) die Frage nach dem empirischen Gehalt, nach konkreten Erfahrungsformen von Verzeitlichung und Beschleunigung im 18. Jahrhundert; (2.) damit zusammenhängend, die methodologische Kritik an der klassischen Begriffsgeschichte, die sich vor allem auf die Selbstdeutungen der historischen Akteure in den kanonischen theoretischen Abhandlungen gestützt und dabei die konkreten sozialen Kontexte hinter diesen Diskursen vernachlässigt habe. Historisches Bewusstsein des 18. Jahrhunderts lasse sich dagegen nicht nur in einer "Gipfelwanderung" durch die kanonischen geschichtstheoretischen Texte herauslesen, sondern ist in unterschiedlichsten Quellen implizit manifest (12ff.). Nach Erlin ermöglicht eine Ausweitung der Begriffsgeschichte hin zur Analyse des Stadt-Diskurses im 18. Jahrhundert eine Antwort auf beide Probleme: Auf der einen Seite kommen in den von ihm untersuchten Stadtdiskursen konkrete Beschleunigungserfahrungen zum Ausdruck. Hier findet sich die bei Koselleck offen gebliebene Verbindung von Geschichtsbewusstsein und "real-historical process" bzw. die "material conditions" dieses Geschichtsbewusstseins (23). Und diese Verbindung wird auf der anderen Seite vor allem rekonstruierbar durch eine Erweiterung des Quellenkorpus auf Zeitungsdebatten und literarische Quellen wie Reiseberichte, Romane oder Schauspiele (dazu ausführlich 13).
Das Berlin des 18. Jahrhunderts stellt für Erlin aus mehreren Gründen einen besonders exemplarischen Fall für diese Zusammenhänge dar. Erstens gilt Berlin als Aufsteiger unter den europäischen Großstädten bereits den Zeitgenossen als typisch moderne, besonders traditionslose Stadt. Zweitens steht Berlin exemplarisch für den Funktionswandel der Stadt am Ende der Frühen Neuzeit von der alten Reichsstadt zur Stadt als Knotenpunkt von Residenz, Verwaltung und Handel, d. h. als Hauptstadt eines absolutistischen Staates. Drittens ist Berlin wesentlich durch seine Mischung von unterschiedlichsten soziokulturellen Gruppen geprägt, durch Zuwanderer wie Hugenotten und Juden und durch verschiedene soziale Gruppen wie Beamte, Händler, Kaufleute: "As these various social groupings indicate, eighteenth-century Berlin was something of a hybrid: part court city, part state capital, and part bustling metropolis" (31). Alle diese Merkmale des Feldes führen nach Erlin in Berlin zu einem spezifischen pragmatischen Geschichtsdiskurs, der nicht akademisch geprägt ist wie in Göttingen und nicht idealistisch wie beispielsweise in Weimar/Jena. Schließlich lasse sich besonders am Beispiel Berlins damit auch das in der Forschungsgeschichte lange vorherrschende Vorurteil der Stadtignoranz deutscher Kultur relativieren.
Seine These vom Zusammenhang zwischen Stadterfahrung und historischem Bewusstsein entfaltet Erlin vor allem an Texten von Friedrich Gedike, Friedrich Nicolai, Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn. Entsprechend seiner methodischen Vorannahmen ("an analysis of literary, philosophical, and journalistic sources", (174)) greift er dabei sowohl auf theoretische Abhandlungen als auch auf literarische Quellen wie Gedikes fiktiven Reisebericht Über Berlin. In Briefen von einem Fremden, Nicolais Berlin-Roman Sebaldus Nothanker oder Lessings Komödie Minna von Barnhelm zurück. Diese Fallbeispiele werden in einem breiten Rahmen des Stadtdiskurses des 18. Jahrhunderts kontextualisiert. Man erfährt etwas über den europäischen Stadtdiskurs der Aufklärung, der im Wesentlichen durch die beiden Modelle der Cartesischen Stadt als rational geplanter, geschichtsloser Konstruktion und der Rousseau'schen Stadtkritik im Rahmen von dessen Moderne- und Zivilisationskritik geprägt ist. Zudem wertet Erlin zahlreiche unbekanntere Quellen aus der Stadt-Diskussion der deutschen Aufklärung aus: Von Friedrich Wilhelm Taubes Gedanken über die Verschönerung der Städte von 1776 bis hin zu Christian Garves Bruchstücken zu der Untersuchung über den Verfall der kleinen Städte von 1796.
In Friedrich Gedikes Briefen über Berlin von einem Fremden (1783-1785) in der Berlinischen Monatsschrift werden die herrschenden Stadt-Stereotypen seiner Zeit mit einer empirischen Analyse des beschleunigten Wandels Berlins kontrastiert. Dieser Wandel werde von Gedike in seiner ganzen Komplexität an Hand von konkreten sozioökonomischen Entwicklungen (Herausbildung von Industrie und selbständiger Bürgerschicht), institutionellen Veränderungen (Anfänge des Nationaltheaters) und der konstitutiven Rolle von Fremden und Zuwanderern (Hugenotten und Juden) beschrieben. Die einfachen Klischees von der Stadt als Ort der Scheinhaftigkeit, des Luxus und der Moden werden konsequent historisiert. Nach Erlin bieten Gedikes Briefe so "a far less formulaic and much more detailed picture of life in Berlin than the average travelogue" (50). Berlin erscheint bei Gedike als ein Laboratorium der Aufklärung, in dem das Verhältnis von Altem und Neuem, Tradition und Innovation ausgehandelt wird.
Friedrich Nicolais Reflexion von Stadterfahrung wird in seiner ganzen Breite dargestellt: Von den Debatten um eine fehlende Hauptstadt im deutschen Sprachraum in den frühen Literaturbriefen (1759-1765) bis hin zu seiner umfassenden Beschreibung der Haupt- und Residenzstädte Berlin und Potsdam (1786). Dass Nicolai im Unterschied zu älteren Vorurteilen auch einer der zentralen Geschichtsdenker der deutschen Aufklärung war, ist seit Horst Möllers Arbeiten bekannt. Es sind dabei vor allem die konkreten materiellen Voraussetzungen möglichen Fortschritts, die Nicolai interessieren. Besonders eindrücklich zeigt Erlin Nicolais konkretes Geschichtsdenken am Beispiel von dessen Berlin-Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773-1776). Nicolai operiert hier mit einer Reihe von Gegensatzpaaren wie 'religiöser Fundamentalismus', 'Intoleranz', 'Orientierung an der Ewigkeit' auf der einen Seite und 'aufgeklärte Toleranz', 'Orientierung an der Empirie', 'pragmatisches, situationsangemessenes Denken' auf der anderen Seite, die im Roman auf den Gegensatz von Provinzialismus und Urbanität übertragen werden.
Ganz ähnliche Beobachtungen macht Erlin in seiner Interpretation von Lessings Minna von Barnhelm (1767). Er zeigt hier, welche zentrale Bedeutung der Schauplatz Berlin für die im Stück verfolgte Dramenkonzeption hat. Im Stück selbst ist die Stadt immer präsent: In den Hintergrundszenen, durch Regieanweisungen des städtischen Lärms, durch Handlungsorte wie Kaffeehäuser, durch Personen wie den Wirt, der als preußischer Polizeispitzel arbeitet. Die Stadt wird so zu einer Art "drittem Raum" ("a kind of third space") einer alternativen, ständeübergreifenden Öffentlichkeit zwischen der privaten Welt und dem Hof (111). In diesem dritten Raum - und dies macht nach Erlin den Zusammenhang von Stadterfahrung und Geschichtsbewusstsein bei Lessing aus - werden sowohl die traditionell dem Bereich des Privaten zugeordneten Tugenden wie Liebe und Zuneigung im gesellschaftlichen Praxisfeld überprüft. Vor allem aber muss der preußische Major Tellheim in diesem Raum sein starres höfisches Normsystem reflektieren und zu Gunsten eines zeit- und situationsgemäßen Handelns revidieren.
Mendelssohns Philosophie wird als eine Theorie der sozialen Interaktion gedeutet, die nur vor dem Hintergrund ihres städtischen Entstehungskontextes verständlich wird. Während Mendelssohn in seinen frühen Rousseau kritisierenden Schriften dabei die Möglichkeiten des zivilisatorischen Fortschritts betont habe, träten seit den 1780er Jahren zunehmend die Ambivalenzen des Fortschritts in den Vordergrund. Im Angesicht von Phänomenen wie beginnender Arbeitsteilung und Entfremdung sowie Beschleunigungserfahrungen (insbesondere bezogen auf die wirtschaftliche Prosperität der jüdischen Gemeinde seit dem Siebenjährigen Krieg) seien bei Mendelssohn modernekritische Fragen nach dem jeweils spezifischen Verhältnis von Aufklärung als theoretischem Wissen, Kultur als praktischem Können und Bildung als individueller Einheit der Erfahrung ins Zentrum gerückt.
Man muss Erlins Deutungen nicht in jeder Einzelfrage teilen. Insbesondere scheint er für seine These, dass im Stadtdiskurs der Spätaufklärung bereits die Ambivalenzen großstädtischer Moderneerfahrung reflektiert werden, einen anachronistischen Moderne-Begriff der Zeit um 1900 zu Grunde zu legen, etwa wenn er Vergleiche zwischen den Berliner Aufklärern und der expressionistischen Berlin-Literatur des frühen 20. Jahrhunderts zieht (64-66), oder wenn er Mendelssohn ähnliche zivilisationskritische Motive unterstellt wie den "nineteenth- and twentieth-century diagnosticians of modernity, from Nietzsche to Simmel and Weber" (162). Doch abgesehen von solchen fragwürdigen Aktualisierungen stellt Erlins Studie einen lesenswerten Beitrag zu zentralen Fragestellungen der neueren Kulturgeschichte dar, der zeigt, was interdisziplinäre Ansätze zu leisten vermögen. Ein Buch, dem man auch eine Übersetzung ins Deutsche wünschen würde.
Iwan-Michelangelo D'Aprile