Kaspar von Greyerz / Kim Siebenhüner (Hgg.): Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800) (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 215), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 432 S., ISBN 978-3-525-35867-2, EUR 59,90
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Das vorliegende Werk ist eines der letzten Bücher mit dem wohlbekannten grünen Einband aus der Reihe des mittlerweile aufgelösten Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, und es fügt sich nicht nur äußerlich, sondern auch inhaltlich in die dort betriebene Forschung ein. Hervorgegangen ist der von Kaspar von Greyerz und Kim Siebenhüner herausgegebene Sammelband aus einer internationalen Tagung des schweizerischen Centro Stefano Franscini, die im Juni 2003 bei Ascona stattfand und von den Herausgebern gemeinsam mit Christophe Duhamelle, Patrice Veit und Hans Medick organisiert wurde. Als Produkt dieser Kooperation besitzt der Tagungsband einen wahrhaft internationalen Charakter und vereinigt 17 Beiträge deutsch-, englisch- und französischsprachiger Autorinnen und Autoren aus den USA, Irland, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und der Schweiz.
Vorangestellt ist eine kurz gehaltene Einleitung (9-25), in der die Herausgeber zunächst ihr Anliegen vorstellen, die bisher unverbunden nebeneinander stehenden Ergebnisse der Religionsgeschichte, der Konfessionalisierungsforschung und der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit Gewaltphänomenen miteinander zu verbinden. Ihr darauffolgender Versuch, das weitgefasste Thema Religion und Gewalt näher einzugrenzen, kreist notwendigerweise um eine Konkretisierung des ihrem Buch zugrunde liegenden Gewaltbegriffs. Greyerz und Siebenhüner referieren dazu die Diskussion um legitime und nicht-legitime Gewalt, die an die Unterscheidung von potestas und violentia anknüpft, problematisieren den fließenden Übergang von nicht-physischer in physische Gewalt, grenzen sich vom Begriff der strukturellen Gewalt nach Galtung ab und verweisen auf den der symbolischen Gewalt nach Bourdieu, um sich schließlich dafür zu entscheiden, "das Phänomen der Gewalt nicht auf physische Gewalt zu beschränken, [...] nicht nur, weil imaginierte und physische Gewalt zusammenhingen, sondern auch um den frühneuzeitlichen Erfahrungen subtiler Macht- und Gewaltformen in Religionsangelegenheiten gerecht zu werden" (18). Mit gutem Grund bekennen sich die Herausgeber also zu einem weitgefassten Begriff von Gewalt, der freilich Gefahr läuft, auf nahezu alle Formen von Interessendurchsetzung und Konfliktaustragung anwendbar zu sein.
Leider wird Religion als zweiter zentraler Begriff des Buches nicht in gleicher Weise differenziert. Das mag daran liegen, dass sich Greyerz dazu bereits an anderer Stelle geäußert und Religion in Anlehnung an Thomas Luckmann als ein sozial geformtes, mehr oder weniger verbindliches Symbol- und Ritualsystem definiert hat, das der individuellen und kollektiven Wertorientierung ebenso wie der Legitimierung weltlicher und natürlicher Ordnung dient. [1] Ein Verweis auf diese Stellungnahme unterbleibt in der Einleitung jedoch, so dass der Eindruck entsteht, der Begriff der Religion stünde als etwas Unhinterfragtes im Raum. Zu selbstverständlich und daher nicht erwähnenswert mag Greyerz und Siebenhüner auch die begriffliche Unterscheidung zwischen Religion und Konfession erschienen sein. Anzuknüpfen gewesen wäre hier an die Überlegungen Anton Schindlings zum Religions- bzw. Konfessionskrieg, um darauf hinzuweisen, dass sich Motivation, Legitimation und Deutung von Gewalt doch beträchtlich voneinander unterscheiden konnten, je nachdem, ob diese Bestandteil interkonfessioneller oder interreligiöser Auseinandersetzungen war. Nachweislich nahmen die Zeitgenossen eine solche Differenzierung vor, obwohl sie zumeist auch dann von Religion sprachen, wenn sie nach heutigem Verständnis Konfession meinten. [2]
Diese Unschärfen der Einleitung deuten bereits an, was nach der Lektüre der Einzelbeiträge außer Frage steht: Eine für alle verbindliche Klärung der Begrifflichkeiten ist nicht erfolgt. So ist abwechselnd von "religious violence" (Vinay Lal, David Warren Sabean, Thomas A. Brady), "violence idéelle", " verbale", "communicationelle", "matérielle", "politico-religieuse" (Jeanne Favret-Saada), "violence potentielle" (Patrice Veit), "verbaler Gewalt" (Francisca Loetz), "struktureller Gewalt" (Christophe Duhamelle, Frauke Volkland) und "symbolischer religiöser Gewalt" (Hans Medick) zu lesen. Dadurch entsteht der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit, so dass die Worte von Francisca Loetz nicht nur auf die Sprache der Quellen und das Empfinden der historischen Akteure, sondern auch auf die Beiträge des Sammelbandes angewandt werden könnten: "Gewalt ist also nicht an sich Gewalt, sondern wird zur Gewalt, indem sie als solche deklariert wird." (315)
Zweifellos ist das Fehlen von Kohärenz das größte Manko des Buches von Greyerz und Siebenhüner. Das zeigt sich auch in der Zusammenstellung der sechs Beiträge, die unter der Überschrift "Religion und Gewalt in der Frühen Neuzeit. Historische Perspektiven" zum ersten Abschnitt des Sammelbandes zusammengefasst sind. Der wenig aussagekräftige Titel lässt schon vermuten, dass hier allerlei Disparates miteinander verbunden werden musste. Im ersten Beitrag hebt Martin Schaffner auf die enge semantische Verknüpfung von Gott und Krieg in den drei monotheistischen Religionen ab und weist deren Fortwirken in der Geschichtsschreibung nach (29-37). Im Anschluss daran verfolgt Jeanne Favret-Saada arg verkürzt den Antisemitismus in der Debatte um die Passionsspiele von Oberammergau (39-50). Zu weitschweifig erscheint hingegen der Beitrag von Vinay Lal, aus dem viel über die Verwerfungen in der indischen Gesellschaft der Gegenwart, aber wenig über das Indien der Vormoderne zu erfahren ist (51-84). Anders als von den Herausgebern angekündigt bieten diese ersten drei Beiträge nur in begrenztem Maß Anschlussmöglichkeiten an die übrigen Texte des Sammelbandes.
Ein Glanzstück ist hingegen der Beitrag von Claudia Ulbrich (85-108), der als einziger die Gewalt zwischen Konfessionen und Religionen im Zusammenhang untersucht. Ulbrich gelingt dies am Beispiel des 1610 veröffentlichten Berichts des Protestanten Michael Heberer von Bretten, der in den 1580er Jahren zunächst Frankreich durchreiste, dann in den Dienst des Malteserordens eintrat, in osmanische Gefangenschaft geriet, schließlich freigekauft wurde und in seine Heimat zurückkehrte. Die in dieser Zeit erfahrenen, verschiedenen Ausprägungen physischer Gewalt werden durch Heberer von Bretten unterschiedlich begründet, beurteilt und bewältigt: Während ein 1585 in Marseille beobachtetes Hugenottenmassaker für ihn unsagbar ist, fasst er die Tätigkeit des Malteserordens als legitimen Kampf aller Christen gegen die Ungläubigen auf. Die selbst erlittene Gefangenschaft wiederum wird als göttliche Strafe interpretiert. In einer umsichtigen Analyse erklärt Ulbrich abschließend, wie diese Deutungen mit der Funktion des Berichts als Rechtfertigungsschrift des Heimgekehrten korrelieren.
Nach diesen vier Beiträgen findet das Buch von Greyerz und Siebenhüner zu seinem eigentlichen Thema: zu den vielgestaltigen und oft alltäglichen Konflikten zwischen den christlichen Konfessionen, zu den Formen obrigkeitlicher Eingriffe in Glauben und Lebenswelt der gemeinen Leute und zu den Spuren, die all dies in der religiösen und sozialen Praxis des jeweiligen Bekenntnisses hinterließ. Der räumliche und zeitliche Schwerpunkt liegt dabei auf dem West- und Mitteleuropa des 16. und 17. Jahrhunderts. Zum Auftakt beschäftigt sich David Warren Sabean am Beispiel der Bartholomäusnacht mit den historiografischen Deutungen religiöser Gewalt von Ranke bis Crouzet (109-123), während Thomas A. Brady einen Überblick über den Zusammenhang von religiöser Gewalt, frühmoderner Staatsbildung und Konfessionalisierung bietet (125-151) und sich Philip Benedict mit der Verbindung von Politik und Religion befasst, die er auch noch für die Zeit nach 1648 als Charakteristikum der frühmodernen europäischen Staatenwelt begreift (155-173).
Der anschließende Reigen der durchweg lesenswerten Fallbeispiele führt zunächst nach Irland (Nicholas Canny, 175-194), dann in das Sachsen der 'Zweiten Reformation' (Jay Goodale, 195-219), später ins Eichsfeld (Christophe Duhamelle, 321-342), in die Kurpfalz und die Ostschweiz (Frauke Volkland, 343-365), schließlich nach Erfurt und Augsburg (Hans Medick, 367-382). Mit der sinnvollen Ausdeutung des Leidens befassen sich Christian Grosse am Beispiel des Calvinismus (221-247) und Peter Burschel anhand täuferischer Märtyrerlieder, lutherischer Trauerspiele und des Jesuitentheaters (249-264). Patrice Veit wendet sich dem Gewalt bewältigenden und Gewalt evozierenden Choral "Erhalt uns Herr bei deinem Wort" zu (267-303), wobei er auch die leider einzige Bildquelle des Sammelbandes auswertet. Francisca Loetz knüpft ihre Überlegungen zum Gewaltbegriff an die Analyse Zürcher Blasphemieprozesse (305-319), und Kim Siebenhüner beschäftigt sich im letzten Beitrag mit der Gewalt der römischen Inquisition zwischen Justiz, Pädagogik und Bürokratie (383-401).
Das Buch ist sorgfältig lektoriert und mit einem Personen- und Ortsregister (421-429) ausgestattet. Die im Anhang beigefügten englischen Abstracts der französischen und deutschen Aufsätze (403-419) sowie die Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren (430-431) mögen der Intention der Herausgeber geschuldet sein, mit ihrem Buch weitere Studien zum Thema anzuregen. Es ist ihnen zu wünschen, dass diese Hoffnung nicht enttäuscht wird, allerdings wird dann noch die Klärung der Begrifflichkeiten nachzuholen sein.
Anmerkungen:
[1] Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500-1800, Göttingen 2000, 11-13.
[2] Anton Schindling: Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Erfahrungsgeschichte und Konfessionalisierung, in: Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, hg. v. Matthias Asche / Anton Schindling, Münster 2001, 11-51.
Julia A. Schmidt-Funke