Dieter Fuchs / Edeltraud Roller (Hgg.): Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam 2007, 359 S., ISBN 978-3-15-010628-0, EUR 14,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hgg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein 2006
Michael Kißener: Das Dritte Reich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005
Dorothee Hochstetter: Motorisierung und "Volksgemeinschaft". Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931-1945, München: Oldenbourg 2005
Seit mehreren Jahren wird in den Geschichtswissenschaften um eine Neukonzeption der Politikgeschichte gerungen. Dabei haben sich zwei gegensätzliche Lager herausgebildet, die über den richtigen methodischen Zugang streiten: Die immer noch recht zahlreichen Protagonisten der alten Politikgeschichte, die politische Entscheidungsprozesse stets als Handlungen bedeutender Männer oder staatlicher Apparate beschrieben hat, und die Verfechter einer neuen Richtung, die derartige Verengungen überwinden wollen, indem sie Politik in kulturgeschichtlicher Erweiterung als Netz von Bedeutungen, Symbolen und Diskursen verstehen. Beide Zugänge haben einige blinde Flecken. Die alte Politikgeschichte hat Begriffe wie "Staat", "Macht" und "Einfluss" ontologisiert und hält die sozialtheoretisch kaum mehr zu rechtfertigende Ansicht hoch, Politik sei das Gravitationszentrum aller historischen Gesellschaftsformationen. Ihre Herausforderinnen und Herausforderer tendieren dazu, Politik auf Interaktionen zu verkürzen, Körperlichkeit und Performanz über Gebühr zu betonen und die jeweilige institutionelle Ordnung zu vernachlässigen. Jedoch kommt ihnen das Verdienst zu, die gegen den Gebrauch von Theorien immer noch resistente alte Politikgeschichte allmählich dazu zu zwingen, die Berechtigung konstruktivistischer, praxeologischer und diskursanalytischer Methoden anzuerkennen. Die Position der neuen Politikgeschichte könnte jedoch komfortabler sein, hätte man sich nicht einseitig auf kulturwissenschaftliche Ansätze als Theorielieferanten beschränkt. Dabei sind die Politikwissenschaften, die im interdisziplinären Gespräch mit den Geschichtswissenschaften ohnedies randständig sind, zu kurz gekommen. Bedenkt man, wie produktiv etwa die neu entstehende Zeitgeschichte seit den späten 1950er Jahren bei der Analyse des NS-Herrschaftssystems mit den seinerzeit ebenfalls recht jungen Politikwissenschaften kooperiert hat, so erscheint dieser Zustand wenig befriedigend.
Das bei Reclam erschienene "Lexikon Politik" steht in einer Reihe mit ähnlich konzipierten Nachschlagewerken zu anderen Disziplinen und ist prinzipiell für alle Historiker von Interesse, die sich im weitesten Sinne mit Politikgeschichte befassen. Es enthält hundert Grundbegriffe der Politik, oder genauer gesagt, der Politikwissenschaften, über deren Auswahl man zwar - wie immer in solchen Fällen - streiten könnte, die aber im Großen und Ganzen als gelungen zu bezeichnen ist. Die Herausgeber machen einleitend jedoch auf eine Begrenzung aufmerksam, die den Gebrauchswert für den Historiker durchaus schmälert: Das Lexikon beschränkt sich auf Politik in Demokratien, und zwar auf die ideelle Ebene der Normen und Werte und die strukturelle Ebene der Organisationen und Institutionen. Obgleich in einigen Artikeln summarisch auch nichtdemokratische Regime abgehandelt werden, erfährt man über die Funktionsweise des politischen Systems außerhalb von Demokratien nur wenig. Politik in vormodernen Gesellschaften und die historische Genese politischer Systeme bleiben gänzlich ausgespart. Darin spiegelt sich nicht zuletzt die Entstehungsgeschichte der Politikwissenschaften als normative Demokratiewissenschaft wider. Dies zeigt sich im vorliegenden Nachschlagewerk übrigens auch in einer ostentativen Vernachlässigung marxistischer Politiktheorie.
Der Aufbau der einzelnen, durchschnittlich drei Seiten umfassenden Artikel folgt einem einheitlichen Grundmuster: Am Beginn steht eine kurze Definition des Sachverhalts, die in der Regel aus einem gemeinsamen Bedeutungskern besteht, der sich aus (durchaus konträren) Begriffsdefinitionen kanonischer politikwissenschaftlicher Autoren herausdestillieren lässt. Dem folgen ein entweder begriffsgeschichtlicher oder systematisch strukturierter Darstellungsteil und Hinweise auf die wichtigste weiterführende Literatur. Die Artikel sind durch ein umfängliches Verweissystem miteinander vernetzt, und ein detailliertes Sach- und Personenregister ermöglicht es, selbst nachrangige Sachverhalte schnell aufzufinden. Im Zentrum des Lexikons steht der Artikel "Politik", den die beiden Herausgeber verfasst haben. Unter Politik verstehen sie jedwede "Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch allgemein verbindliche Entscheidungen" (205), sie liefern damit eine Formel, die implizit und explizit auch vielen anderen Artikeln des "Lexikon Politik" zugrunde liegt. Zur Erarbeitung und Durchsetzung von politischen Entscheidungen bedarf es, so die Herausgeber in Anschluss an David Easton, der Ausdifferenzierung eines darauf spezialisierten Systems. Dieses wiederum ist Teil einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung, mit der es in einem permanenten Austauschverhältnis steht. Es ist schlechterdings sinnlos, von "Politik" zu reden, ohne sich dabei auf ein politisches System zu beziehen.
Der Informationsgehalt der einzelnen Lexikonbeiträge ist - wie bei solchen Gemeinschaftsunternehmen üblich - durchaus unterschiedlich. Einige Artikel, etwa "Extremismus", "Kommunismus", "Terrorismus" und "Totalitarismus", sind recht oberflächlich und bleiben selbst hinter gängigen, nicht fachgebundenen Enzyklopädien zurück. In Beiträgen wie "Autoritäres System", "Macht", "Politisches System", "Steuerung" oder "Verwaltung" werden hingegen auf engstem Raum Forschungsperspektiven entwickelt, die auch für Historiker von immenser Bedeutung sind. Bei einem Lexikon, an dem so viele Autoren beteiligt waren, mag es beckmesserisch anmuten, die Heterogenität der Herangehensweisen zu beklagen. So liefern einige Artikel, ohne nähere Begründung, reine Begriffsgeschichten ("Faschismus", "Nation/Nationalismus" und "Republikanismus"); andere wiederum verbinden auf gelungene Art und Weise begriffliche Semantik, Forschungsgeschichte und politikwissenschaftliche Systematisierungsversuche ("deliberative Demokratie", "Demokratie", "Parteien", "Parteiensystem" und "Zivilgesellschaft"). Eine größere Standardisierung wäre möglicherweise auch nur um den Preis einer allzu rigiden Schematisierung zu erreichen gewesen.
Trotz der genannten Defizite stellt das "Lexikon Politik" einen guten Anlass dar, Grundwissen aus dem Bereich der Politologie in die Kontroverse um die Politikgeschichte einzuführen. Dies ist umso notwendiger, als sich die Kontrahenten momentan in einer Art Stellungskrieg gegenüberstehen, der weniger neuen Argumenten als persönlichen Verletzungen den Weg bereitet. Eine Neukonzeption der Politikgeschichte, wie sie von beiden Seiten als notwendig anerkannt wird, ist jedenfalls noch in weiter Ferne; sie wird allerdings ohne einen Bezug auf die Politikwissenschaften kaum möglich sein. Das "Lexikon Politik" erinnert uns daran, dass es bei Politik immer nur um Kommunikationen geht, die eines (wie rudimentär auch immer) ausdifferenzierten politischen Systems als Adressat bedürfen. Politische Systeme selbst sind national wie international in ein komplexes Geflecht anderer Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionen eingebettet, deren Rolle es zu berücksichtigen gilt, will man Politikgeschichte auf seriöse Weise betreiben. Eine Geschichte der Politik, so könnte man pointiert formulieren, ist im Grunde genommen nur als Gesellschaftsgeschichte möglich. Sie geht in den Handlungen berühmter Männer ebenso wenig auf wie in frei schwebenden kulturellen Praktiken und Diskursen. Es wird noch einiger Anstrengungen bedürfen, Politikgeschichte gesellschaftsgeschichtlich zu fundieren. Dies ist jedoch kein Grund, es nicht zu versuchen.
Armin Nolzen