Matthias Schnettger / Marcello Verga (Hgg.): Das Reich und Italien in der Frühen Neuzeit. L'Impero e l'Italia nella prima età moderna (= Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient; Bd. 17), Berlin: Duncker & Humblot 2006, 497 S., ISBN 978-3-428-12150-2, EUR 32,00
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Anzuzeigen ist ein bedeutender Sammelband, der neue Perspektiven auf die Geschichte des Alten Reichs eröffnet und zugleich auch der eingefahrenen Debatte um die Staatlichkeit des Alten Reiches durch die Hervorhebung seines europäischen Charakters neue Anstöße zu geben vermag. Fortgeführt werden hierin die Arbeiten Karl Otmar von Aretins, der nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Neubewertung der Geschichte des Alten Reiches leistete, sondern auch erstmals die Geschichte Reichsitaliens untersuchte und weitere Studien anregte. Matthias Schnettger, der mit seiner Habilitationsschrift über Genua nun selbst einen Beitrag zur Geschichte Reichsitaliens vorgelegt hat, und Marcello Verga umreißen in ihrer Einleitung knapp die Forschungslage: Eine Tradition der Erforschung des frühneuzeitlichen Reichsitaliens besteht in Deutschland - abgesehen von den Arbeiten Aretins - nicht. Gleiches gilt auch für Italien, Ansätze der 1930er Jahre mit den Arbeiten von Giovanni Tabacco und Salvatore Pugliese fanden keine Nachfolger (Verga, 13f.). Es ist in den letzten Jahren jedoch Bewegung in die Erforschung der Geschichte Reichsitaliens gekommen, so dass mit dem vorliegenden Band, hervorgegangen aus einer Tagung in Trient zu Aretins 80. Geburtstag im Jahre 2003, eine erste "Bestandsaufnahme" (Schnettger, 8) vorgelegt werden kann.
Marcello Verga benennt einleitend die zentralen Problemkomplexe, die im Mittelpunkt der Erforschung Reichsitaliens stehen. An erster Stelle ist die Frage nach den Interdependenzen zwischen dem Streben nach Souveränität und der Geltung des Reichsrechts im Prozess der Staatsbildung in Italien zu nennen. Wie war das Streben nach Souveränität in den zu Reichsitalien zählenden Klein- und Mittelstaaten in Einklang zu bringen mit der Lehnsherrschaft des Kaisers? Die daraus resultierenden Komplikationen, einschließlich des Einflusses des Kaisers in den zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Apenninenhalbinsel, standen bislang im Zentrum der Forschung (16f.). Aus weiteren Themenkreisen, die bislang weit weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, ergeben sich folgende Fragen: Wie wirkte sich die kaiserliche Lehnsherrschaft konkret auf die Politik der Herrscher und das Verhalten ihrer Untertanen in den Territorien Reichsitaliens aus? Welche Grenzen setzte sie dem Souveränitätsstreben ersterer und in welchen Kontexten wandten sich letztere an den Reichshofrat (hierzu einige Bemerkungen im Beitrag von Leopold Auer, 31ff.)? Zu schreiben ist darüber hinaus eine Wahrnehmungsgeschichte Reichsitaliens und der kaiserlichen Macht in Italien: Wie werden die Zäsuren der Reichsgeschichte (etwa die Abdankung Karls V. oder der Westfälische Frieden - siehe zu letzterem den Beitrag von Stefano Andretta -, der Aufstieg des Hauses Habsburg 1683, 1700-1715, Habsburg in Italien 1715-1748 etc.) wahrgenommen? Wie reagiert man in Reichsitalien auf die neuen Ansprüche eines mächtiger werdenden Kaisers? Und welche Möglichkeiten bot der Dienst (Militär und Verwaltung) für den Habsburger-Kaiser aufstiegswilligen italienischen Familien? (23) Welcher Medien bedienten sich die Habsburger, um ihren neuen Machtanspruch in Italien zu repräsentieren? (24)
Die im Band versammelten Fallstudien geben erste Antworten auf diese Fragen, sie sind, den oben formulierten Fragen entsprechend, in drei Kapitel unterteilt: 1. Die Macht des Reiches: Institutionen, Strukturen, Kriege; 2. Der Schatten des Reiches: Das Reich und die italienischen Staaten; 3. Die Bilder des Reiches: Kultur, Theorien, Ikonographie.
Der Umfang der ersten Sektion belegt, dass zu diesen Fragen bislang am stärksten gearbeitet wurde. Sie enthält Beiträge von Leopold Auer ("Reichshofrat und Reichsitalien", eine Einführung in die Problematik von bestechender Qualität), Jan Paul Niederkorn (über italienische Subsidien für den Kaiser im 16. und 17. Jahrhundert), Daniela Frigo (über Reichsitalien und den Spanischen Erbfolgekrieg), Heinhard Steiger (über die reichsitalienischen Lehen in den völkerrechtlichen Verträgen der Frühen Neuzeit), Stefano Andretta (über das Reich nach 1559 und 1648 aus römischer Perspektive), Vittorio Tigrino (über die kaiserlichen Institutionen und Savoyen/Sardinien zwischen 1789 und 1815) und von Christopher Storrs (über die Erhebung von Kontributionen während des Neunjährigen Krieges).
Den "Schatten des Reiches" untersuchen Matthias Schnettger (Genua und das Reich), Rita Mazzei (Lucca und das Reich), Alexander Koller (Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser über die Lehnsherrschaft von Borgo Val di Taro bei Parma; hier verbinden sich der Kampf um die Lehnsherrschaft mit den Familieninteressen des Papstes, der Borgo für seinen Sohn erwerben wollte) und Cornel Zwierlein (über Savoyen und das Reich zwischen 1536 und 1618).
Die "Bilder des Reiches" sind Thema der Beiträge von Giovanni Ciprani (über das Reich und die politische Kultur Italiens im frühen Cinquecento), Alessandraa Contini (über die Erhebung Cosimos I. zum Großherzog 1569-1572), Achim Landwehr (über eine antivenezianische Flugschrift des Jahres 1612, in der nicht nur die Souveränität der Serenissima bestritten, sondern auch ihr Gründungs-Mythos radikal in Frage gestellt wurde) und Elisabeth Garms-Cornides (Reichsitalien in der habsburgischen Publizistik des 18. Jahrhunderts).
Wie in einem Brennglas werden die komplexen Beziehungen zwischen Italien und dem Reich in der Epoche des Spanischen Erbfolgekrieges gebündelt, dargestellt in der Studie Daniela Frigos, auf die pars pro toto näher eingegangen werden soll. Der Krieg kennzeichnet eine zentrale "Wasserscheide" in der frühneuzeitlichen Geschichte Italiens. Mit dem Ende der Spanischen Herrschaft verschwand ein Herrschaftssystem, das für politische Stabilität gesorgt, manchen Fürstenhaushalt durch Subsidien vor dem Bankrott bewahrt und zugleich kaiserliche Ansprüche in Reichsitalien gedämpft oder auch zurückgewiesen hatte. An seine Stelle trat das habsburgische Herrschaftssystem, anders organisiert als das spanische und weitaus größeren Druck ausübend, was sich schon im Neunjährigen Krieg andeutete (Storrs, 99f.). Mit Besorgnis wurden in Italien die Teilungsverhandlungen im Vorfeld registriert; die Alternative zu Habsburg, eine französische Dominanz, schien wenig verlockend.
Doch gelang es nur den Republiken Genua und Venedig sich in die Neutralität zu flüchten. Die anderen Staaten mussten Stellung beziehen und wurden wie Parma-Piacenza (93) auch gegen ihren Willen in den Krieg verwickelt, der 1701 in Norditalien begann und dort bis 1707 dauern sollte. Savoyen, das durch sein Bündnis mit Ludwig XIV. maßgeblich die Eskalation in Italien vorantrieb, wurde dafür belohnt: Der rechtzeitige Seitenwechsel sicherte die Königskrone. Dabei kam Savoyens Verhältnis zum Reich eine tragende Rolle zu, denn beide Aspekte dieser Verbindung waren von Bedeutung: Der Schutz kleinerer Lehen des Reiches durch den Kaiser konnte durchbrochen werden, so dass der Kaiser der Expansion Savoyens nicht mehr im Wege stand, andererseits konnte sich Savoyen beim Seitenwechsel auf die Pflicht des Kaisers zum Schutze seiner Vasallen berufen. Freunde gewann man in Wien zwar nicht, wohl aber die Unterstützung der Seemächte, die Savoyen bei den Friedensverhandlungen in Utrecht Sizilien und einen Teil des Herzogtums Mailand verschafften (95-97).
Ganz anders hingegen das Herzogtum Mantua, der alte Rivale Savoyens: Nach einer Phase der Annäherung an den Kaiser in den 1640er und 1650er Jahren hatte sich der letzte Herzog Ferdinando Carlo mit der Überlassung der Festung Casale an die Franzosen an die Seite des Sonnenkönigs begeben. Was folgte, war ein Prozess wegen Felonie, die Absetzung des Herzogs durch den Reichstag und schließlich, nach dem Tode des letzten Gonzagas, der Einzug des Herzogtums als erledigtes Lehen (97-107).
Die Republik Venedig stellte zwischen 1680 und 1713 ihre traditionelle Politik der Neutralität auf den Prüfstand. Mit der Etablierung der kaiserlichen Herrschaft in Italien drohte ein weiterer Machtverlust, nicht nur, dass man von kaiserlichen Territorien seit 1710 eingekreist war, auch die traditionelle Rolle als bestimmender Faktor im italienischen Gleichgewicht war bedroht (111f.). Den Schritt an die Seite Frankreichs wagte man nicht, zu den Verlieren zählte Venedig schließlich doch: Nicht nur die Präsenz des Kaiser in der Lombardei bedeutete einen Machtverlust, auch der Ausbau Triests und die maritimen Pläne Karls VI. raubten Venedig die uneingeschränkte Kontrolle der Adria.
In seiner Gesamtheit handelt es sich um einen Band, der wegen seines grenzüberschreitenden Ansatzes als Standardwerk zur Reichsgeschichte betrachtet werden sollte. Bedauerlich nur, dass ein Register fehlt und dass zu befürchten ist, dass aufgrund der allgemein geringer werdenden Sprachkompetenz die italienischsprachigen Beiträge nur wenig rezipiert werden.
Sven Externbrink