Johannes Ulrich Schneider: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 109), Wiesbaden: Harrassowitz 2005, 364 S., ISBN 978-3-447-05302-0, EUR 88,00
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Die Geschichte der Gelehrtenrepublik ist in den letzten Jahren von einem Randthema der historischen Forschung zwar nicht ins Zentrum, aber doch stärker in den Vordergrund gerückt worden. Sie bietet ein weites Feld insbesondere für interdisziplinäre Studien und verbindet Wissenschaftsgeschichte mit der Geschichte der Philosophie, der Universitäts-, Kultur- und Literaturgeschichte, der Geschichte des Buches und der Sozialgeschichte.
Der Band dokumentiert Vorträge einer Wolfenbütteler Tagung vom Oktober 2002; ihr Gegenstand ist die Blütezeit der Gelehrtenrepublik, ein Phänomen, mit dem sich Europa, so Marc Fumaroli in seiner fulminanten Vorbemerkung, von den anderen Kulturen der Welt abhebt. (Welt-)reiche gab es überall, eine République des Lettres nur in Europa. Von dieser entfernen wir uns aktuell immer weiter, da die westliche Welt dem ökonomischen, naturwissenschaftlichen und technischen Denken den Vorzug vor den "humanités" gebe - eine dramatische Situation für das "Europe de l'esprit."(9) In der "Begründung" einer "Geschichte der Gelehrtenrepublik" sieht Fumaroli einen Weg, dem Vergessen der Ideen der Gelehrtenrepublik Einhalt zu gebieten.
Der Band ist in vier Sektionen aufgeteilt, die Ulrich Johannes Schneider in einer knappen Einleitung vorstellt: Im ersten Teil, "Milieu", werden nationale und regionale Tätigkeitsfelder der Gelehrten untersucht, z. B. Akademien und "freie Vereinigungen, die sich der Verbesserung der [...] Wissenschaft insgesamt widmeten". An ihnen können die Kontexte gelehrter Tätigkeit erarbeitet werden.(14) Im Band enthalten sind hierzu folgende Beiträge: Nicolas Philipson mit "Some Reflections on the Circulation and Appropriation of Ideas in the Scottish Enlightenment", Jean-Loup Sebans "Les Beausobres et la vie intellectuelle de Berlin", Michel Henri Kowalewicz und "Les échanges épistolaires de Johann Albrecht Euler", Joaquín Álvarez Barrientos und seine "Politica y República de las Letras en la España de siglo XVIII".
Teil II, "Praktiken", umfasst "Wollen und Wirkungen" (15) - konkret die verschiedenen Ergebnisse der Arbeit der Gelehrten, von der Kompilation bis zum grundlegenden, intellektuelles Neuland erschließenden Œuvre eines Thomasius oder Kant reichend, aber auch die Vermittlung von Wissen, etwa in neuen Formen des Unterrichts. Dargestellt werden die "Praktiken" von Martin Gierl in "Kanon und Kritik. Aufklärung und die Vertextung des Sozialen", Rainer Maria Kiesow mit "Der Fall Pitaval", Frank Grunert mit "Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit" und Reimund Sdzuj in "Die Figur des Neuerers und die Funktion von Neuheit in den gelehrten Disziplinen".
Teil III, "Begegnungen", führt ein in die "Lebensformen und Erfahrungswelten der Gelehrten", d.h. in Reisen, Debatten, aber auch Konflikte mit der Zensur. Der Leser "unternimmt" eine "Reise durch die Gelehrtenrepublik. Soziales Wissen in Gottlieb Stolles Journal" (Martin Mulsow), er "begegnet" dem Prinzen von Ligne (Jeroen Vercruysse), dem "Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik gegen Maupertius und Friedrich II." (Ursula Goldenbaum) und schließlich einem "Opfer der Zensur in den Haag: Johann Conrad von Hatzfeld" (Edoardo Tortarolo).
Teil IV, "Medien", thematisiert die "medialen Grundformen" der "Verwirklichung" der Gelehrtenrepublik in Büchern und Zeitschriften, Disputationen und Konflikten. Dies wird illustriert in Beiträgen von Anne Saada ("La Communication à l'intérieur de la République des Lettres observées à la bibliothèque universitaire de Göttingen"), Françoise Blechet (über die "Réseaux de l'abbe de Bignon"), Ute Schneider ("Die Funktion wissenschaftlicher Rezensionszeitschriften im Kommunikationsprozeß"), Merio Scattola ("Roman und praktische Philosophie") und Hanspeter Marti ("Kommunikationsnormen der Disputation", am Beispiel Halles und Thomasius). Den Band beschließt der Herausgeber mit Überlegungen zu "Leibniz und Lessing als Bürger der Gelehrtenrepublik".
Alle Beiträge können nicht eingehend vorgestellt werden; ihre Aufzählung soll aber der Information des Lesers dienen, während nachfolgend nur auf jene eingegangen wird, die dem Rezensenten von besonderem Interesse waren.
Lesenwert sind die Ausführungen von Frank Grunert zum "Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius": Thomasius und seine Anhänger wenden sich gegen ein auf "theoretischen Spitzfindigkeiten" (132) gründendes Verständnis von Gelehrsamkeit und propagieren eine "Pragmatisierung der Gelehrsamkeit", die der "Glückseligkeit" verpflichtet sei und jedem offen stehe. Jeder solle und müsse in der Lage sein, die eigene "Unwissenheit" zu bekämpfen - Kants Diktum vom Ausgang aus der "Selbstverschuldeten Unmündigkeit" deutet sich hier bereits an. Praktische Konsequenz ist, dass sich Wissenschaften öffnen müssen, etwa durch die Verwendung der Landesprache als Wissenschaftssprache. (142-145) Andererseits kann auf die "Schulgelahrtheit" doch nicht ganz verzichtet werden: "Die eigentliche, theoretisch substanzielle Gelehrsamkeit findet wieder bzw. doch in den ordentlichen Bahnen akademischer Gelehrsamkeit bzw. disziplinärer Gelehrsamkeit statt." (153)
Am Beispiel der Reisenotizen Gottlieb Stolles illustriert Martin Mulsow die sich den "Praktiken der Gelehrsamkeit, wie Sammeln, Exzerpieren, Kompilieren" widmende "Alltagsgeschichte der Gelehrsamkeit." (185) Stolle (1673-1744) war Schüler von Christian Thomasius und Johann F. Budde und lehrte seit 1717 als Professor für Politik in Jena. Sein Reisetagebuch entstand, als er als Hofmeister zwei Schützlinge 1703/04 auf einer Reise durch Deutschland und die Vereinigten Niederlande begleitete. Stolle und seine Begleiter führten Protokoll über ihre Begegnungen mit den Berühmtheiten der Gelehrtenrepublik. Notiert wurde aber nicht nur der "wissenschaftliche Ertrag" der Gespräche, sondern vor allem der "Alltag". Was für Charaktere waren Pierre Bayle und Jean Le Clerc, wie verhielten sie sich im Gespräch, und welchen Klatsch und Gerüchte verbreiteten sie über ihre "Kollegen"? Stolles Journal, dessen Edition Mulsow vorbereitet, eröffnet den Weg zu einer "historischen Anthropologie der République des Lettres." (201)
In die Epoche der langsamen "Auflösung des Zusammenhalts der Gelehrtenrepublik" führt Ursula Goldenbaum in ihrer Studie zur Verurteilung Samuel Königs durch Maupertuis und die Berliner Akademie. König hatte unter Berufung auf einen in seiner Herkunft nicht gesicherten Leibnizbrief Maupertuis eine Entdeckung bestritten - was dieser mit der Verurteilung (wider besseren Wissens) durch die Berliner Akademie beantwortete, zugleich ein "Machtspruch", der "für König den vollständigen Verlust seiner wissenschaftlichen und moralischen Reputation bedeutet" hätte. (220) König wehrte sich mit einem "Appel au public", "einer theoretisch begründete[n] Verteidigung der Meinungsfreiheit". Die Reaktion seiner Gegner bestand in Verleumdungen, an denen sich auch der aufgeklärte Preußenkönig beteiligte, der seinen Akademiepräsidenten verteidigte, ohne die Tragweite des Konfliktes zu ermessen. (224) Auf die Seite Königs schlug sich Voltaire, der sich aktiv am Flugschriftenkampf beteiligte. Dass sich König durchsetzen konnte, verdankte er einem "Netzwerk von Aufklären", das sich zwar den Idealen der Gelehrtenrepublik verpflichtet fühlte, aber aus Gelehrten und "gebildeten Männern und Frauen" bestand, und entsprechend wandte es sich nicht "nur an Gelehrte, sondern an ein breites gebildetes Publikum." (228)
Die Veränderung in den Praktiken der Gelehrtenrepublik vom späten 17. bis späten 18. Jahrhundert erläutert Ulrich Johannes Schneider gleichsam als Synthese und Schlusswort des Bandes am Beispiel der "Denkstile" und Argumentationsweisen von Leibniz und Lessing, die beide von den Schätzen der Wolfenbütteler Bibliothek profitierten. Leibniz entwickelte neue Ideen scheinbar beiläufig. Er war orientiert auf Korrespondenz und Konversation, seine Werke verfasste er weniger, um sie zu publizieren, als vielmehr, um ihre Kerngedanken in seiner Korrespondenz zu diskutieren. Darin ganz seiner Zeit verpflichtet lebte er doch im "l'âge de l'éloquence" (Marc Fumaroli) und der höfischen Konversation. Ganz anders Lessing: Er verschleierte seine Ideen in der Interpretation Dritter, provoziert und polemisiert, um über die Debatte Erkenntnisfortschritte und "Aufklärung" zu erzielen. Dabei wird das Publikum explizit zur Stellungnahme aufgefordert. Das Ziel der Bemühungen Leibniz' und Lessings ist jedoch identisch: Es ist die Gelehrtenrepublik, die dafür sorgt, dass der Diskurs innerhalb der Gelehrtenrepublik auch über den Tod ihrer Initiatoren erhalten bleibt. (356)
In der Gesamtheit seiner Beiträge mit ihren vielfältigen Herangehensweisen spiegelt der Band den interdisziplinären Charakter in der Forschung zur Gelehrtenrepublik und kann daher als ein Baustein zu der von Marc Fumaroli einleitend eingeforderten "Histoire de la République des Lettres" betrachtet werden. Der Band ist nicht unbedingt zum Einstieg in den Gegenstand geeignet, leistet gleichwohl aber einen Beitrag zur Vertiefung unserer Kenntnisse.
Sven Externbrink