Ingeborg Reichle / Steffen Siegel / Achim Spelten (Hgg.): Visuelle Modelle, München: Wilhelm Fink 2008, 318 S., ISBN 978-3-7705-4632-9, EUR 29,90
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Den Begriff des Modells kennzeichnet zweifellos eine gewisse Unschärfe seiner Bestimmung. Dass dieser Umstand aber nicht in schierer Unübersichtlichkeit enden muss, beweist der von Ingeborg Reichle, Steffen Siegel und Achim Spelten herausgegebene Sammelband "Visuelle Modelle". Die zirka 300seitige Publikation umfasst insgesamt neunzehn Texte und ist aus einem gleichnamigen Workshop hervorgegangen, der im März 2007 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde. Neben der Aufsatzsammlung "Verwandte Bilder" ist der Band "Visuelle Modelle" bereits die zweite Veröffentlichung des "Jungen Forums für Bildwissenschaften", das die Herausgeberin und die Herausgeber initiiert und organisiert haben. [1]
Der Sammelband "Visuelle Modelle" überzeugt zuallererst aufgrund seines dichten thematischen Zusammenhalts und der schlüssigen Anordnung der Aufsätze. Dies ist unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Beiträge des Workshops durch fünf weitere Texte ergänzt wurden. Dadurch ist es der Editorin und den Editoren gelungen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen verschiedenen Annäherungen an die Bedeutung und die Funktion von Modellen herzustellen. Es ist eine Stärke der Publikation, dass sich deren Gliederung weder an Disziplinen (z.B. Modelle in den Naturwissenschaften, in den Sozialwissenschaften, in der Kunst etc.) noch an Medien (z.B. grafische Darstellungen, Objekte, Simulationen etc.) oder der Verwendung von Modellen (z.B. als Illustration, Experiment, epistemisches Werkzeug etc.) orientiert. Die insgesamt vier Abschnitte des Bandes organisieren die Texte vielmehr nach Aspekten, die zur generellen Problematik von Modellen gehören: I) Begriff und Metapher, II) Experiment und Wissen, III) Maß und Raum, IV) Zeit und Struktur. Infolgedessen wurde es möglich, sowohl methodisch als auch thematisch mitunter sehr unterschiedliche Erörterungen zielführend zu integrieren.
Der Sammelband "Visuelle Modelle" kann als eine gelungene interdisziplinär angelegte Publikation bezeichnet werden. Das Spektrum der daran beteiligten Fachdisziplinen reicht von der Philosophie über die Soziologie, die Kunstgeschichte, die Mediävistik und Medienwissenschaften bis hin zu Informatik und Wissenschaftsgeschichte. Die Beispiele, anhand derer die Tragweite des Begriffs Modell bzw. der Einsatz von Modellen diskutiert werden, sind dementsprechend vielseitig und abwechslungsreich. Die Einzeluntersuchungen informieren unter anderem über mittelalterliche Baumdiagramme (Annemarie R. Verboon), Landkarten und Globen (Sebastian Grevsmühl), Computersimulationen (Inge Hinterwaldner), Eulers Modell zur Lösung des Königsberger Brücken-Problems (Bernd Mahr), Fotogramme (Carolin Artz), die Konstruktion der DNS-Doppelhelix durch Watson und Crick (Reinhard Wendler), Denk-Spielzeuge des 19. Jahrhunderts (Sebastian Gießmann), die Socken Walter Benjamins (Philipp Ekardt) oder Architekturmodelle aus Brot (Katrin Käthe Wenzel). Während es sich hierbei weitestgehend um materielle Artefakte handelt, erörtern andere Autoren, weshalb Bilder in der Lage sind, zu Modellen der Wirklichkeit zu werden (Samuel Strehle), wie Metaphern Modelle zur Verfügung stellen können, die ganze Wissenschaften und deren Theoriebildung beeinflussen (Tobias Schlechtriemen) oder inwiefern in der Wahrnehmung eines Modells bereits dessen Interpretation mit enthalten ist (Achim Spelten).
Mit Blick auf diese thematische Bandbreite gilt es zu fragen, aus welchem Grund der Sammelband dennoch nicht zum bloßen Sammelsurium an Phänomenen und Ideen geraten ist. Eine Antwort deutet zweifelsohne bereits der Titel "Visuelle Modelle" selbst an. Entscheidend ist nämlich die bewusste Hinwendung zu den visuellen Aspekten von Modellen und zur Effektivität ihrer Anschaulichkeit. Damit ist die grundlegende Problemstellung unmittelbar im Zentrum der bildwissenschaftlichen Debatten angebunden. Gleichfalls wird aber auch sofort ein Vorteil deutlich: Die Frage nach der Kraft des Visuellen ermöglicht, ja erfordert die Analyse ganz verschiedener Artefakte, die zwar qua Sichtbarkeit Wissen erzeugen oder vermitteln, die aber nicht notwendigerweise Bilder im engen Sinn sein müssen. Dem Band gelingt es also zugleich, Probleme aufzuwerfen, die sich durch die Diskussionen um das Bild ziehen, und Perspektiven anzudeuten, wie Überlegungen zur Bildlichkeit auf eine breitere Basis gestellt werden könnten. [2]
In den Auseinandersetzungen mit visuellen Modellen finden sich folgerichtig zahlreiche Denkansätze wieder, die auch im Repertoire der Untersuchungen zum Bild anzutreffen sind. Gottfried Boehms programmatische Frage "Was ist ein Bild?" ist dabei längst mehrfach neu gestellt worden: So wird gefragt, warum Bilder überhaupt da oder wie Bilder eigentlich möglich sind, wann Bilder Zeichen sind oder was Bilder eigentlich wollen. [3] Die definitorische Frage, was genau ein Modell ist, bleibt auch im vorliegenden Band erfrischenderweise weitestgehend unbehandelt. Eher ist festzuhalten, dass sich eine Vielzahl der Texte an den Klassifizierungen reibt, die Herbert Stachowiak in seiner schon 1973 veröffentlichten "Allgemeinen Modelltheorie" vorgenommen hat. Stark problematisiert wird vor allen Dingen das Verhältnis von Original und Modell, der Zusammenhang von Modell und Erkenntnis oder der Aspekt der Ähnlichkeit. Die Aufsätze sind immer dann am überzeugendsten, wenn sie die epistemische Funktion von Modellen in Relation zu Praktiken und Handlungen setzen oder die eminente Bedeutung von Modellen bei der Konstruktion von Wirklichkeit an konkreten Beispielen herausarbeiten.
Der Band "Visuelle Modelle" ist durchweg gewissenhaft ediert und versammelt eine Vielzahl an Texten, die sich durch ein hohes reflexives Niveau auszeichnen. Zu bedauern ist allerdings, dass weder die ansonsten überzeugende Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber noch andere Beiträge einen Überblick über die (auch disziplinär) weitangelegte Diskussion zum Thema Modell geben. Eine kurze, aber differenzierte Darstellung der Fachliteratur und der darin erörterten Problemstellungen wäre beim Lesen eine große Hilfe. Mit Blick auf den bildwissenschaftlichen Hintergrund der Publikation wäre es zudem wünschenswert gewesen, wenn jene Beziehungen deutlicher herausgearbeitet wären, die der Begriff des Modells je nach Kontext zu Begriffen wie Bild, Diagramm, Metapher oder Graph unterhält. Einige wenige Texte lassen eine Aufmerksamkeit dafür vermissen, wodurch die Termini nahezu beliebig austauschbar werden. Ärgerlich ist dies deshalb, weil es dem Band ansonsten gelingt, dahingehend Klarheit zu schaffen.
Die wenigen Kritikpunkte wirken sich aber kaum auf den hochwertigen Gesamteindruck des Sammelbandes "Visuelle Modelle" aus. Er eignet sich bestens als Einstieg in die Diskussion über Evidenz, Wahrnehmung und Wirksamkeit der sichtbaren Eigenschaften von Modellen. Man darf hoffen, dass die damit angestoßene Auseinandersetzung eine Fortsetzung findet. Dies gilt zumal deshalb, weil das reflexive Verhältnis von visuellen Modellen und Modellen der Visualität nach weiterer Ausarbeitung verlangt. Ein erfolgreicher Auftakt ist mit diesem Sammelband aber sicherlich gelungen.
Anmerkungen:
[1] Ingeborg Reichle / Steffen Siegel / Achim Spelten (Hgg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2007.
[2] Eine solche Kehre vom Bild zur Bildlichkeit fordert u.a. Dieter Mersch: Blick und Entzug. Zur "Logik" ikonischer Strukturen, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. von Gottfried Boehm / Gabrielle Brandtstetter, München 2006, 55-70. Für eine ähnliche Wende vom Modell zum Modellsein plädiert Bernd Mahr: Das Wissen im Modell, 150. KIT-Bericht, Berlin 2004 (http://www.flp.tu-berlin.de/fileadmin/fg53/KIT-Reports/r150.pdf PDF)
[3] Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994; Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründung eines Bildmediums, München 2003; Mark A. Halawa: Wie sind Bilder möglich? Argumente für eine semiotische Fundierung des Bildbegriffs, Köln 2008; Lambert Wiesing: Wenn Bilder Zeichen sind. Das Bildobjekt als Signifikant, in: ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005, 37-80; William J. Thomas Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005.
Marcel Finke