David M. Gwynn (ed.): A.H.M. Jones and the later Roman Empire (= Brill's Series on the Early Middle Ages; Vol. 15), Leiden / Boston: Brill 2008, xv + 281 S., ISBN 978-90-04-16383-6, EUR 99,00
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Wer sich mit Staat und Gesellschaft im spätrömischen Reich beschäftigt, wird immer wieder zu dem im Jahre 1964 publizierten, 1500 Seiten starken Werk "The Later Roman Empire 284-602: A Social, Economic, and Administrative Survey" des englischen Historikers A. H. M. Jones (1904-1970) greifen, handelt es sich doch um eine sehr detaillierte, ganz aus den Quellen geschöpfte und klar formulierte Strukturanalyse des Themenspektrums, das der Titel umreißt. Das Buch wurde gleich bei Erscheinen als 'Klassiker' begrüßt und löste doch auch nachhaltige Irritationen aus: Dass Jones sich weigerte, in einen Dialog mit seinen Fachkollegen einzutreten, wurde außerhalb Englands als Skandal empfunden und hat der Rezeption seiner Thesen auf dem europäischen Kontinent nicht wenig geschadet. Auch das bewusste Ausklammern aller Aspekte, die etwas mit Ideen oder Mentalitäten zu tun haben, stieß vielerorts auf Unverständnis. Die 300seitige Ereignisgeschichte, mit der Jones sein Werk einleitet, steht, wie er selbst wusste, nicht auf der Höhe der strukturanalytischen Kapitel, und wird daher mit Recht meist ignoriert. Da Jones dazu neigt, das Quellenmaterial in großer Vollständigkeit vor dem Leser auszubreiten, bevor er seine Schlussfolgerungen zieht - und dies häufig sehr knapp und ohne Erörterung von Alternativen -, kann man bei der Lektüre leicht den Faden verlieren. Für eine Lektüre als Ganzes ist sein Werk, das keine literarischen Ambitionen verfolgt, ohnehin völlig ungeeignet; man muss es sich erarbeiten. Dass Jones konsequent darauf verzichtet hat, nicht-schriftliche Quellen zu berücksichtigen, gilt inzwischen ebenfalls als prinzipielles Manko seines opus magnum.
In der angelsächsischen Welt markiert Jones' Werk die Hinwendung zur Analyse der Spätantike unter sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen und den Beginn der Ablösung vom Dekadenzdiskurs. Seit Jones hat das Studium der Spätantike einen großen Aufschwung genommen, man spricht nicht mehr von Niedergang, sondern von Wandel, und viele Disziplinen beteiligen sich an der Erforschung dieser Epoche. Dabei sind gerade die kulturwissenschaftlichen Aspekte, die Jones bewusst ausgeklammert hatte, in den Vordergrund getreten. Sein großes Werk wird darum heute zwar immer noch als unnachahmliche Leistung eines genialen Einzelgängers bewundert, aber doch nur noch von wenigen als unverändert aktuell betrachtet. Das ist auch der Grund, weshalb es zum Gegenstand eines lesenswerten Tagungsbandes gemacht worden ist, der hier anzuzeigen ist.
Im ersten Teil des Bandes geht es um A. H. M. Jones als Person und als Geschichtsschreiber. Alexander Sarantis (3-24) zeichnet das Bild eines hochbegabten und frühreifen Mannes, der fast sein ganzes Leben - mit Ausnahme einer Tätigkeit als Reader an der Universität Cairo in den Jahren 1929-1934 - an den englischen Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge verbrachte. Die einzige und für die Entwicklung seines Denkens offenbar nicht unbedeutende Unterbrechung dieses Gelehrtenlebens war die Tätigkeit im Ministry of Labour während des 2. Weltkrieges, wo Jones für die Verwaltung von Arbeitskräften zuständig war; wie es scheint, begann er damals, positive Züge an einer funktionierenden staatlichen Bürokratie zu entdecken. Jones sympathisierte zeitlebens mit der britischen Linken und verstand sich selbst als Atheisten, wenngleich er keineswegs anti-christlich eingestellt war, aber sein Leben war das eines Gelehrten, der mit den Jahren immer menschenscheuer und wohl auch einsamer wurde. Peter Garnsey (25-41) demonstriert, dass Jones sein historiographisches Selbstverständnis in Auseinandersetzung mit Rostovtzeff und Ernst Stein entwickelte. Im Zentrum habe das Absichern der eigenen Position durch Quellenverweise (authentication) gestanden, das sich im Laufe der Jahre zu einer Art Obsession entwickelt habe; nachgelassene Materialien aus der Arbeit an "The Later Roman Empire" bestehen ganz überwiegend aus handschriftlichen Quellen-Exzerpten. Stefan Rebenich (43-62) zeigt demgegenüber auf, dass Jones viel mehr gelesen hatte, als er zugeben wollte, und das Maß seiner Abhängigkeit von den Vorgängern bewusst verschleierte. Der Verzicht auf die Auseinandersetzung mit fremden Meinungen war Teil einer Selbststilisierung, die so erfolgreich war, dass sie in der angelsächsischen Forschung bis heute oftmals für bare Münze genommen wird.
Im zweiten Teil des Bandes werden einzelne Aspekte des Werkes analysiert. Auch wenn alle Autoren betonen, dass LRE ein Jahrhundertwerk sei und noch heute den Ausgangspunkt jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Römischen Reich der Spätantike bilde, führen viele Beitrage in der Sache zu dem Schluss, dass die Forschung heute nicht bloß andere Interessen verfolgt als Jones, sondern auch sein methodisches Vorgehen in vielen Punkten nicht mehr zu teilen vermag. So legt Michael Whitby (65-96) dar, dass man bei Jones vergeblich nach einem kohärenten Modell für kaiserliches Handeln sucht, weil er in einem konstitutionalistischen Verständnis von Macht befangen blieb und keinerlei Verständnis für die Bedeutung von symbolischen Praktiken und Diskursen hatte. Peter Heather (97-119) tritt dagegen für die Aktualität des sozialgeschichtlichen Ansatzes von Jones ein und meint, dass seine Analysen des spätrömischen Staatsapparates und dessen Interaktion mit den imperialen und munizipalen Eliten nach wie vor grundlegend seien, wenngleich sie natürlich der Vertiefung bedürften. Caroline Humfress (121-142) betont, dass Jones das Rechtswesen des spätrömischen Staates zwar primär durch das Prisma der Gesetzessammlungen betrachtet habe, aber aufgrund seiner ausgezeichneten Kenntnis der nicht-juristischen Quellen auch dessen praktisches Funktionieren mit in den Blick genommen habe. Zugleich fordert sie zu einer Revision der Auffassung auf, das Ausmaß spätrömischer Gesetzgebungstätigkeit sei ein Indikator mangelnder Effektivität. Roger Tomlin (143-166) argumentiert, dass Jones' Analyse der römischen Armee im 4. Jahrhundert nur in wenigen Punkten der Korrektur bedürfe; dies betreffe die Entstehung des Bewegungsheeres, vor allem aber die Größe des spätrömischen Heeres insgesamt, die Jones weit, wohl um mindestens das Doppelte, überschätzt habe. Luke Lavan (167-191) hebt hervor, dass Jones sich vor allem mit institutionellen und administrativen Aspekten der spätantiken Stadt beschäftigt habe; er habe archäologische Forschungen bewusst ignoriert, weil deren rasches Veralten seinem Vorsatz hinderlich gewesen sei, ein Werk zu schaffen, das ihn selbst überdauerte, was ihm gerade wegen dieser Beschränkung schließlich auch gelungen sei. Bryan Ward-Perkins (193-211) zeigt auf brillante Art und Weise einerseits, dass Jones mit vielen, zu seiner Zeit verbreiteten Klischees über den angeblichen wirtschaftlichen Niedergang in der Spätantike aufräumte und dadurch der aktuellen Neubewertung der spätantiken Wirtschaft den Weg bereitete, und macht andererseits deutlich, weshalb die Forschung auf diesem Gebiet heute methodisch ganz andere Weg geht als Jones. David M. Gwynn (213-229) meint, dass Jones' Analyse der spätantiken Kirche als einer Institution nach wie vor grundlegend sei, bemängelt aber, dass Jones kein Verständnis für die positiven Wirkungen des Christentums gehabt habe; im Übrigen weist er nach, dass Jones seine Kenntnis der spätantiken Kirchengeschichte aus einem einzigen Handbuch geschöpft hat. Averil Cameron (231-249) stellt das berühmt-berüchtigte letzte Kapitel in Jones' opus magnum in den Kontext zeitgenössischer Debatten über "Das Ende des Römischen Reiches" und kommt zu dem Ergebnis, dass seine Behandlung des Themas weder originell noch profund sei: Er habe nach monokausalen Erklärungen für ein Phänomen gesucht, das nur im Westen überhaupt existiert, obwohl seine eigene Darstellung den Fortbestand des Reiches im Osten dokumentiert, und er habe zwar Strukturen beschreiben, aber nicht ihren Wandel analysieren können, weil er stets in der Vorstellung befangen geblieben sei, dass die Spätantike eine Zeit des Niedergangs gewesen sei. Am Ende des Bandes steht ein souveränes Nachwort aus der Feder des neben G. E. M. de Ste. Croix bedeutendsten Schülers, den A. H. M. Jones gehabt hat: Wolfgang Liebeschuetz (251-269). Liebeschuetz begnügt sich aber nicht damit, die einzelnen Beiträge zusammenzufassen, sondern gibt eine Reihe von knappen, aber weiterführenden Hinweisen zur historischen Kontextualisierung seines Werks. Zugleich plädiert er dafür, die zentralen Themen, die Jones bearbeitete, nicht zu marginalisieren oder gar zu tabuisieren; das Ende der Antike sei nach wie vor eine legitime und fruchtbare Fragestellung.
Hans-Ulrich Wiemer