Jessica Horsley: Der Almanach des Blauen Reiters als Gesamtkunstwerk. Eine interdisziplinäre Untersuchung, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 491 S., ISBN 978-3-631-54943-8, EUR 74,50
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Wenn Wissenschaft als "Entwicklung durch Anhäufung" aufgefasst wird und sich auf die "Beseitigung der Hindernisse" konzentriert, die sich einer solchen Kumulation in den Weg stellen, wie Thomas S. Kuhn in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen schreibt [1], so muss man Jessica Horsleys Forschungsbeitrag zum Almanach der Künstler um den Blauen Reiter als eine kleine Revolution bezeichnen. Denn diese von ihr zu Recht als wichtigste Primärquelle bezeichnete Schrift ist aufgrund der Vielfalt der in ihr zusammengeführten künstlerischen Bereiche (Musik, Malerei, Grafik, Volkskunst), der Fülle von vertretenen Künstlern aus ganz Europa, vor allem aber auch aufgrund der lange Zeit schwer zugänglichen Quellen in sowjetischen wie in privaten deutschen Archiven und aufgrund der Verfemung, die insbesondere russische Künstler, die am Almanach mitgewirkt hatten, ab Mitte der 1920er Jahre traf (z.B. David Burljuk), über Jahrzehnte ein Forschungsdesiderat geblieben. Diese Lücke, die Horsley nun fürs Erste schließt, war bislang umso schmerzlicher gewesen, als der Almanach - neben Kandinskys früher Schrift Über das Geistige in der Kunst und der programmatischen Antwort des um Otto Fischer versammelten Kreises der in der 'Neuen Künstlervereinigung München' verbliebenen Künstler [2] - eine der profundesten Quellen zur theoretischen Fundierung dieser künstlerischen Gruppierung darstellte.
Horsleys 2004 an der Universität Tübingen eingereichte Dissertation untersucht auf 384 gut lesbar geschriebenen Seiten [3] in einer für Horsley fremden Sprache erstmals auch die musikalischen und viele der bislang nur sehr allgemein umrissen gebliebenen künstlerischen und wissenschaftlichen Beiträge der Almanach-Herausgeber und -Autoren: So erfährt man detailliert, wie es zu den Beiträgen Erwin von Busses und Roger Allards kam, wird Eugen von Kahlers Auseinandersetzung mit dem ägyptischen Schattenspiel ausführlich dargestellt [4] und überdies detailliert nachgezeichnet, wie die musikalischen Beiträge nicht nur des in diesem Zusammenhang allseits bekannten Arnold Schönberg, von Alban Berg und Anton von Webern, sondern gerade auch wie diejenigen von Alexandr Nikolajewitsch Skrjabin und wie Leonid von Sabanejews und Nikolai I. Kulbins Texte über neue Musik in den Almanach aufgenommen wurden.
Doch ist Horsley, die Musikwissenschaften studiert hat, auch kunsthistorischen Detailfragen nachgegangen, etwa der nach dem Übereinstimmen der Abbildungen im Almanach mit Wilhelm Worringers Dissertation Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (139). Bei der Behandlung des umfangreichen Stoffes hat sich Horsley für eine Ordnung gemäß den wissenschaftlichen Disziplinen entschieden (bildende Kunst, Musik, Literatur und Bühne). Die Darstellung nach Kunstgebieten folgt auf einen einleitenden Abschnitt (A: Die Ideen), der in I. Das Geistige, II. Schlüsselbegriffe (sic!!), III. Die Formfrage, IV. Das Verhältnis zur Tradition (sic!), V. Die Vereinigung der Künste, VI. Epochenwende untergliedert ist, was Fragen wie diejenige nach dem Verhältnis von Schlüsselbegriffen zu "Das Geistige" aufwirft. Überdies hat diese Einteilung Wiederholungen produziert [5], die allein dieser Ordnungsstrategie geschuldet sind; obgleich die Schwierigkeit, dass viele der beteiligten Autoren mit mehreren Künsten sowie als Künstler und Theoretiker vertreten waren, nicht zu unterschätzen ist. Im die Forschungen zu den Einzelgattungen der Künste zusammenführenden Teil C (Der Almanach als Gesamtkunstwerk), der zwar einen Abschnitt zur Bimedialität aufweist, aber weder Fragen der Präsentation von Partituren, die über eine Anordnung hinausreichen, noch solche zur Geschichte der spezifischen Publikationsform Almanach behandelt [6], sondern die "tieferen Schichten" zwischen Text und Bild allein in der Anordnung auf den Seiten vermutet, hat Horsley ihre Überlegungen zur inhaltlichen Verknüpfung zu wenig anschaulich gemacht. [7]
Insgesamt hat sie einen enormen Aufwand betrieben, um schwer zugängliche Materialien wie beispielsweise die zwischen Thomas von Hartmann und Wassily Kandinsky gewechselte Post zugänglich zu machen und die im Almanach veröffentlichten Musikstücke von Skrjabin neu abzudrucken. Auch die methodische Prämisse, den Almanach strikt als Datum aufzufassen, überzeugt, weil dadurch z.B. der Beitrag der Gebrüder Burljuk für die inhaltliche und bildliche Gestaltung des Almanachs eine angemessenere Würdigung erfährt und die französischen, deutschen und russischen Almanachbeiträge insgesamt neu gewichtet werden. Überdies hat Horsley mit dem Musiktheoretiker von Hartmann Kandinskys wichtigsten Gesprächspartner vor der Bekanntschaft mit Marc erstmals umfangreicher in das Blickfeld der Forschung gerückt. [8] Welche Schwierigkeiten sich einem solchen Vorhaben in den Weg gestellt haben, mag allein der umfangreiche Fußnotenapparat verdeutlichen, mit dem sie den äußerst knapp gehaltenen allgemeinen Forschungsbericht (15-22 und 28f.) zu entlasten gesucht hat, was dem Leser den Überblick über die Forschung zum Almanach allerdings nicht erleichtert. Diese Entscheidung ist umso weniger nachzuvollziehen, als Horsley sich in ihrer Kritik ohnehin auf wenige Positionen der Kandinskyforschung konzentriert. [9] Methodisch hat sie die Fruchtbarkeit von Hobergs Ansatz, den teleologischen Verzerrungen der Ereignisse um die Gründung und das Ende der 'Neuen Künstlervereinigung München' entgegenzuwirken, benutzt.
Kritisch anzumerken ist aber vor allem, dass sich Horsleys Grundüberlegung, den Almanach als Dokument eines Gesamtkunstwerks in das Blickfeld der Forschung zu rücken, kaum auf das methodische Forschungsrepertoire der Autorin durchgeschlagen hat. So sind die eigentlichen Hindernisse der Forschung zum Almanach weniger in der zweifellos unvollständigen Sekundärliteratur als vielmehr darin auszumachen, dass mit den von Kandinsky hinterlassenen autobiografischen Schrifttum unkritisch umgegangen wird, wie am eindrucksvollsten Felix Thürlemann und Marion Ackermann aufgezeigt haben [10], weshalb Kandinskys nachträglich vorgenommene Korrekturen an den Ereignissen um die Gründung des Blauen Reiter fortgeschrieben werden, statt sie in ihrer Widersprüchlichkeit aufzulösen. Vor allem aber irritiert, dass die Interdisziplinarität, die Horsley dazu bringt, Musik, Literatur und Bühnenkunst gleichgewichtig einzubinden, nicht auf eine Auseinandersetzung mit kulturtheoretischen Positionen ausgedehnt wurde. Hier hätten sich die direkten persönlichen Kontakten der Blaue Reiter-Künstler zu Wilhelm Worringer und Theodor Lipps ebenso angeboten wie die um 1900 weitreichende Ausstrahlung von Kulturtheoretikern wie Georg Simmel, Ernst Cassirer und Aby Warburg. [11] Dadurch hätte die Vagheit von Begriffen wie "das Geistige" und dessen Bezug zur Form vermieden werden können und wären die Hintergründe für Allards, Busses, Kandinskys und Marcs Strategie, die ästhetischen Prämissen und künstlerischen Erfindungen nicht als originäre Entdeckung, sondern als ein Wiederaufgreifen einer bereits seit Langem etablierten Formensprache primitiver Kulturen zu verstehen vermutlich besser erhellt worden als durch den Versuch, die allseits bekannten Textpassagen gegeneinander zu stellen. Überdies wäre vor der Folie der damals weitverbreiteten kulturtheoretischen Überlegungen das Aufgreifen eines derart spezifischen bimedialen Mediums wie es der Almanach darstellt, überhaupt als Frage in das Blickfeld gelangt.
Doch ist mit Horsleys umfassender Dokumentation der wichtigste Schritt in Richtung einer "kunstgeschichtlichen Kulturgeschichte" getan. [12] Es bedarf nun einer "neuen Art, Fragen zu stellen." [13] Sie zeichnen sich bei Margarita Tupitsyns Gegeneinanderstellung der verschiedenen Abstraktionsweisen in "Gegen Kandinsky" und bei Andreas Hünekes Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte des Blauen Reiter ab 1945 bereits ab. [14] Die Ergiebigkeit semiotischer und bildwissenschaftlicher Fragestellungen hat sich aber auch schon erwiesen, wie die Forschungen Felix Thürlemanns, Marion Ackermanns, Rainer Zimmermanns und Matthias Haldemanns gezeigt haben. [15]
Anmerkungen:
[1] Zitiert nach Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1976, 15f.
[2] Vgl. Otto Fischer: Das Neue Bild, München 1912 sowie Hans Wille: "Das Neue Bild von Otto Fischer", in: Der Blaue Reiter und Das Neue Bild. Von der 'Neuen Künstlervereinigung München' zum 'Blauen Reiter', hg. von Annegret Hoberg / Helmut Friedel, München 1999, 321-328.
[3] Ausnahmen wie auf S. 120, wo Epsteins Zusendung von Fotografien Delaunays an Kandinsky als "wichtigste Folge des Salon des Indépendant von 1911" beschrieben wird, bestätigen die Regel.
[4] Die grundlegendste Aufarbeitung des Beitrags von Kahler zur Avantgarde der 1910er Jahre hat Merete Cobarg geleistet. Vgl. dies.: Eugen von Kahler (1882-1911). Leben und Werk, Diss. Karlsruhe 1989. Vgl. Horsley Anm. 248, 122.
[5] Vgl. Abschnitt B I. die Ausführungen zu Emil von Busses Beitrag über Delaunay (114ff) und Abschnitt C das Verhältnis von Text und Bild (352f.).
[6] Während Horsley die "Vorgeschichte des Almanachs" auf die zwischen Marc und Kandinsky gewechselten Briefe begrenzt (360f.) und damit unabsichtlich suggeriert, sie hätten diese Form der Bilderfolge erfunden, hätte sich hier ein Vergleich mit der Tradition des Almanach im 19. Jahrhundert oder zumindest eine kritische Würdigung in Absetzung von dem von Richard Huelsenbeck herausgegebenen Dada Almanach, Berlin 1920 angeboten.
[7] Lies S. 355 C.2. Die vergleichende Gegenüberstellung von Abbildungen Franz Marc: "Zwei Bilder".
[8] Der bisherige Kenntnisstand war vor allem in Hobergs Anthologie zur "Neuen Künstlervereinigung München" zusammengefasst. Siehe Hoberg / Friedel (Hg.), 1999 (wie Anm. 2), 13-26, 28-55 sowie Franziska Uhlig: "Die 'Neue Künstlervereinigung München' im Spannungsfeld zwischen Ost und West", ebenda, 292-299.
[9] Kritisiert wird vor allem die 1999 in München veranstaltete Ausstellung von Hoberg und Friedel, die sich anhand der Rekonstruktion der Vorgängerausstellung zum "Blauen Reiter" erstmals um eine Zusammenschau des "Blauen Reiter" und der "Neuen Künstlervereinigung München" verdient gemacht hat. Vgl. hierzu die Rezension von Roland Mönig: Journal für Kunstgeschichte 4 (2000), 380-383.
[10] Marion Ackermann: "Das bunte Leben. Die Geschichte der Sammlung von Wassily Kandinskys Werken im Lenbachhaus", in: Das bunte Leben. Wassily Kandinsky im Lenbachhaus, hg. von Marion Ackermann / Helmut Friedel, Köln 1995.
[11] Vgl. Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München 2005; Maria Rosario De Rosa: Teodor Lipps. L'estetica e critica dell arti, Napoli 1990 und Ulrich Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003.
[12] Zitiert nach Michael Diers: Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Kopierbüchern der Jahre 1905-1918, Weinheim 1991, 5 und Anm. 26, 210.
[13] Kuhn, 1976 (wie Anm. 1), 17f.
[14] Vgl. Margarita Tupitsyn: Gegen Kandinsky/Against Kandinsky, Ostfildern 2006 und Andreas Hüneke: Bruch und Kontinuität. Zur Rezeption des Blauen Reiter ab 1945, Köln 2008.
[15] Vgl. Felix Thürlemann: Kandinsky über Kandinsky. Der Künstler als Interpret eigener Werke, Bern 1985; Matthias Haldemann: Kandinskys Abstraktion. Die Entstehung und Transformation eines Bildkonzepts, München 2001 und Reinhard Zimmermann: Die Kunsttheorie Wassily Kandinskys, Berlin 2002.
Franziska Uhlig