Ursula Niedermeier: Lippisches Judenrecht und der Schutz der Juden in den Zivilprozessen der lippischen Obergerichte im 19. Jahrhundert (= Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft; Bd. 4351), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 198 S., ISBN 978-3-631-38641-5, EUR 39,00
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Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen - Fallstudien - Statistiken, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Das aus einer juristischen, an der Universität Bielefeld entstandenen Dissertation hervorgegangene Buch Ursula Niedermeiers besteht aus vier großen Abschnitten: Nach einer Erläuterung der Zielsetzung (I) werden in einem rechtsnormativen Block (II) die Grundlagen des lippischen Judenrechts seit 1648 bis zur Emanzipation 1869 erläutert, wobei der Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert liegt. Hiervon ausgehend analysiert die Studie die Rechtspraxis (III), geht also auf Prozesse ein, die lippische Juden vor den dortigen Obergerichten geführt haben. Abschließend fasst Niedermeier ihre Ergebnisse (IV) prägnant zusammen. Im Folgenden soll auf die wesentlichen Inhalte der einzelnen Abschnitte eingegangen werden.
Im ersten Teil erläutert Niedermeier die Zielsetzung ihres Vorhabens: Es gelte, eine Lücke in der rechtsnormativen und -praktischen Forschung zu schließen, da es "nur eine vergleichsweise geringe Anzahl detaillierter Publikationen über die rechtlichen Verhältnisse der Juden in Deutschland in den Jahrhunderten vor dem Nationalsozialismus" gebe; "noch weniger Studien beleuchten die tatsächliche Rechtspraxis in den deutschen Territorien zu dieser Zeit" (11). Dabei will die Autorin der rechtlichen Stellung der Juden, deren Sozialgeschichte sowie einem wirksamen Minderheitenschutz anhand des Judenrechts und der forensischen Verfahren nachgehen. Obgleich die Einschätzung hinsichtlich einer bisher vernachlässigten Erforschung jüdischer Rechtspraxis gegenüber der Rechtsnorm richtig ist, muss sich der Rezensent jedoch bereits hier fragen, ob sich diese Fragestellungen nicht weiter hätten ausdifferenzieren lassen, ist doch das "Judenrecht" [1] bereits für viele Territorien analysiert worden.[2] Eine stärkere Konzentration auf die Rechtspraxis wäre demnach sinnvoller gewesen. So hätte die Studie sicherlich mehr analytische Schärfe erhalten, wenn zurzeit intensiv diskutierte Ansätze aus der Frühneuzeitforschung appliziert worden wären. Wegweisende Projekte wie "Von der Rechtsnorm zur Rechtspraxis" von Andreas Gotzmann, Stefan Ehrenpreis und Stephan Wendehorst im Projekt-Cluster "Jüdisches Heiliges Römisches Reich" [3] oder die Publikationen Barbara Staudingers [4] sowie Friedrich Battenbergs [5] zu jüdischen Prozessen an den beiden höchsten Reichsgerichten, aber auch das Konzept der Justiznutzung [6] sind nach Ausweis der Bibliographie offenkundig nicht rezipiert worden.
Im zweiten Abschnitt (13-112) steht nun zunächst die Rechtsnorm des Judenrechts im Zentrum des Interesses. Niedermeier beschreibt eingangs kurz die rechtliche Stellung der Juden in Deutschland seit dem Frühmittelalter. Hiervon ausgehend wendet sie sich der historischen Entwicklung des Fürstentums Lippe zu. Zusätzlich erläutert Niedermeier die soziale Zusammensetzung der hier vornehmlich in Armut lebenden jüdischen Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert. Danach skizziert sie ein klares, jedoch von anderen Territorien bereits bekanntes Bild jüdischer Rechtsstellung in Lippe bis in das 18. Jahrhundert hinein (13-54). Hiernach werden die gegensätzlichen zeitgenössischen Standpunkte zur Judenemanzipation referiert, um dann einen chronologischen Überblick über die Weiterentwicklung der Judengesetzgebung des Fürstentums Lippe darzubieten, die in eine allmähliche Emanzipation der Juden bis zur entsprechenden Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes überging (54-107).
Besonders aufschlussreich ist in diesem Abschnitt der Umstand, dass insbesondere die Regierung der aufgeklärten Fürstin Pauline zu Beginn des 19. Jahrhundert zusammen mit einer sensibilisierten Öffentlichkeit im Rahmen des vorherrschenden aufklärerisch-utilitaristischen Verbesserungs- und Erziehungsdiskurses die Anfänge lippischer Emanzipationsgesetzgebung markierte. Wie in anderen Staaten des Deutschen Bundes machten sich die lippischen Juden diesen christlich geprägten Erziehungsdiskurs zu Eigen und formten ihn, beispielsweise in eigenen Schulprojekten, für ihre Ansprüche um.[7] Auf der Grundlage dieses Befundes setzt sich Niedermeier, diesen Abschnitt abschließend, kritisch, allerdings beinahe vernichtend, mit der lippischen Emanzipationsgesetzgebung auseinander (107-112). Bei aller berechtigten Kritik sollte indes nicht vergessen werden, dass es erstmals seit den Zeiten Reuchlins wieder zu einer breiten Diskussion über die jüdische Rechtsstellung kam. Berechtigterweise zu kritisieren wäre lediglich, dass die mangelnde Konsequenz der lippischen Regierung hinsichtlich einer endgültigen Emanzipation die Diskussion hierüber in die Länge zog und damit wesentlich zur Transformation des christlichen Antijudaismus in den modernen Frühantisemitismus beitrug.[8]
Letztlich kommt die Autorin in der chronologisch angelegten Schilderung der einzelnen Emanzipationsgesetze nicht über den bisherigen Forschungsstand hinaus. Eine strukturelle Synthese der Einzelgesetze und der zeitgenössischen Diskurse vermisst der Leser. Zudem referiert Niedermeier im Kapitel über die Emanzipationsdebatte lediglich Handbuchwissen. Hier behauptet Niedermeier auch, die 'Theorie des christlichen Staates' sei erst in den 1830er Jahren aufgekommen. Die Schriften Friedrich Rühs' [9], der dies gleich nach der unmittelbaren Emanzipationsrücknahme 1813/15 formulierte, bleiben hingegen unerwähnt. Besonders vermisst der Leser aber eine Analyse der lokalen lippischen Diskussion über die Judenemanzipation.
Der dritte Abschnitt des Buches (113-172) beschäftigt sich mit den jüdischen Prozessen vor den beiden höchsten lippischen Gerichten, der Justizkanzlei und dem Hofgericht. Es zeigt sich, dass die Juden in der Rechtspraxis gute Chancen besaßen, ihre Angelegenheiten vor Gericht zu einem positiven Abschluss zu bringen. Die lippischen Gerichte verfuhren, im Übrigen wie das Reichskammergericht vor 1806 [10], nach dem Prinzip der Trennung von Prozessmaterie und Person und stellten die Prozessfähigkeit von Juden nie in Frage. Der Rechtsweg stand ihnen wie allen anderen Bürgern gleichberechtigt offen. Während die lippischen Gerichte den Juden "wirksamen Rechtsschutz" boten (178), erkannten die lippischen Juden die landesherrliche Gerichtsbarkeit und Autorität ohne Vorbehalte an. Leider gelingt es der Autorin aber nicht, die Prozesse exemplarisch ausführlicher auszuwerten. Vielmehr bleibt es nach einer detaillierten Schilderung des lippischen Gerichtswesens (114-126) bei einer bloßen deskriptiven Aneinanderreihung der ausgewählten Prozesse, die vor allem einen ökonomischen Hintergrund haben (127-171). Die Möglichkeiten, die die Interpretation von Gerichtsakten und die Analyse von Fallbeispielen bieten [11], lässt die Studie somit weitgehend aus. Ebenso wird die politische Dimension des Themas konsequent ausgeblendet. Insbesondere die Berücksichtigung der unterschiedlichen politischen Gewichtsverteilung der beiden Obergerichte hätte der Analyse ein schärferes Profil gegeben. So war die Justizkanzlei eine ausschließlich vom Landesherrn dominierte Institution, während das Hofgericht auch unter dem Einfluss der Landstände stand. Der Frage, welche Stellung die Juden im Spannungsfeld dieser beiden Gerichte sowohl juristisch als auch politisch einnahmen, wird nicht nachgegangen. So hätte eine einleitende, jedoch hier fehlende Quantifizierung auch Aussagen darüber treffen können, welches der beiden Gerichte die Juden häufiger anriefen.
Den Fragen nach der Bedeutung der Gerichtsprozesse für den Emanzipations- und Verbürgerlichungsprozess der Juden geht die Arbeit ebenfalls nicht konsequent genug nach. Eine Vertiefung dieser Zusammenhänge bleibt ebenso aus, wie dem Leser die jüdische Sichtweise auf Landesherr, Staat, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Gesellschaft und Emanzipation, die aus den Prozessakten durchaus rekonstruiert werden könnte, vorenthalten wird. Dagegen entlässt die Autorin den Leser lapidar mit dem Satz: "Soweit ersichtlich erfolgte der Ausgleich widerstreitender Interessen im christlich-jüdischen Verhältnis durch das Gericht gerecht und nicht anders als im rein christlichen Verhältnis" (172). Allerdings ist der Wert dieser Aussage begrenzt: Zum einen werden die angeführten Fallbeispiele vornehmlich ökonomischer Provenienz diesbezüglich nur sehr oberflächlich befragt und die juristischen Argumentationsstrukturen sowie die der Prozessparteien nur sehr knapp referiert, zum anderen findet keine zusammenführende Betrachtung und Analyse von Rechtsnorm und Rechtspraxis hinsichtlich Übereinstimmungen oder Unterschiede in der rechtlichen Stellung der Juden im Schlussabschnitt statt.
Der Autorin geling es dennoch, ein anschauliches Bild insbesondere der normativen jüdischen Rechtsstellung und Entwicklung der Judenemanzipation in einem kleinen Territorium des Alten Reichs und des Deutschen Bundes zu zeichnen. Sie erreicht dies durch Einbeziehung eines breiten Quellenkorpus und eine detaillierten Schilderung der einzelnen Gesetze in einer weitgehend luziden Sprache mit nur wenigen semantischen Unebenheiten. Insofern liefert die Arbeit keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse, aber durchaus interessantes Material, das den bisher bekannten Forschungsstand ergänzt und bestätigt. Insbesondere als Grundlage für weitere Studien über die Rechtspraxis lippischer Juden beispielsweise vor den beiden höchsten Gerichten des Alten Reiches kann diese Arbeit verwendet werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Guido Kisch: Jüdisches Recht und Judenrecht. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Grundlegung für eine Rechtsgeschichte der Juden, in: ders., Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters nebst Bibliographie (Guido Kisch. Ausgewählte Schriften 1), Sigmaringen 1978, S. 187-198.
[2] Vgl. bspw. Imke König: Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.-18. Jh.) (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt am Main 1999; hierzu die Rezension von Stephan Laux, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 11, URL: http://www.sehepunkte.de/2002/11/2362.html, 4.5.2008; vgl. auch Werner Marzi: Judentoleranz im Territorialstaat der Frühen Neuzeit. Judenschutz und Judenordnung in der Grafschaft Nassau-Wiesbaden-Idstein und im Fürstentum Nassau-Usingen (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 16), Wiesbaden 1999.
[3] Andreas Gotzmann / Stefan Ehrenpreis / Stephan Wendehorst: Jüdisches Heiliges Römisches Reich, Erfurt / Frankfurt am Main, Leipzig 2006/7; Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst: Zwischen Kaiser, Landesherrschaft und Halacha: Zwischenräume als jüdische Rechts- und Handlungsspielraume, in: dies. (Hgg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (Beihefte Zeitschrift für Historische Forschung 39), Berlin 2007, 1-10; Andreas Gotzmann / Stefan Ehrenpreis / Stephan Wendehorst: Probing the Legal History of the Jews in the Holy Roman Empire - Norms and their Application, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), 409-460.
[4] Barbara Staudinger: Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559-1670, ungdr. Diss. phil. Wien 2001; dies.: Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis. Eine Stellungnahme zu einem Forschungsvorhaben zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich, in: Aschkenas 13 (2003), 1, 107-115; dies.: "Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten". Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Sabine Hödl / Peter Rauscher, dies. (Hgg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin, Wien 2004, 143-183.
[5] Friedrich Battenberg: Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 13), Wetzlar 1992; ders.: Juden am Reichskammergericht in Wetzlar. Der Streit um die Privilegien der Judenschaft in Fürth, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.): Die politische Funktion des Reichskammergerichts (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 24), Köln, Weimar, Wien 1992, 189-221; ders.: Juden vor dem Reichskammergericht, in: Ingrid Scheuermann (Hg.): Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1995, 322-327.
[6] Martin Dinges: Frühneuzeitliche Justiz: Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hgg.): Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 1 (Rechtssprechung. Materialien und Studien, 4), Frankfurt am Main 1992, 269-292.
[7] Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), 603-628; dies.: Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland. Eigenarten und Paradigma, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Eine Auswahl, Bd. 3: Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, 105-133.
[8] Christoph Kampmann: Die Petition des Salomon Hirsch und die Würzburger "Hepp-Hepp"-Krawalle: Zur frühen Verwendung des Begriffs "Judenemanzipation" in der publizistischen Debatte, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60 (2000), 417-434; ders.: Protest gegen die Obrigkeit? Zur Deutung der judenfeindlichen Unruhen während des Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 212 (2001), 471-500; zum Frühantisemitismus vgl. Dietmar Preissler: Frühantisemitismus in der Freien Stadt Frankfurt und im Großherzogtum Hessen (1810-1860) (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, N.F. 3), Heidelberg 1989; vgl. auch Inge Schlotzhauer: Die bürgerliche Gleichstellung der Frankfurter Juden im Urteil der zeitgenössischen Schriften 1816/17, in: Hessisches Jahrbuch 34 (1984), 129-161.
[9] Friedrich Rühs: Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Zweiter verbesserter und erweiterter Abdruck. Mit einem Anhange über die Geschichte der Juden in Spanien, 2. Aufl. Berlin 1816, hier 2f., 32-35, 37f.
[10] Vgl. bspw. Friedrich Battenberg: Ritualmordprozesse gegen Juden in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Rainer Erb (Hg.): Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen die Juden (Dokumente, Texte, Materialien des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin 6), Berlin 1993, 95-132.
[11] Auch Karl Härter: Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Jus Commune 21 (1994), 215-240, hier 221 betont, dass die Rechtspraxis nur über die eingehende Analyse von exemplarischen Fallbeispielen erforscht werden kann.
André Griemert