Juliane Jacobi / Jean-Luc Le Cam / Hans-Ulrich Musolff (Hgg.): Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500-1700 (= Beiträge zur Historischen Bildungsforschung; Bd. 35), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, VII + 359 S., ISBN 978-3-412-20033-6, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Heinz Schilling / Stefan Ehrenpreis (Hgg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur, und Wissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot 2007
Hans-Jürgen Grabbe (Hg.): Halle Pietism, Colonial North America, and the Young United States, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008
Jens Bruning / Ulrike Gleixner (Hgg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576-1810, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2010
Hans-Ulrich Musolff / Anja-Silvia Göing (Hgg.): Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Stephanie Hellekamps / Hans-Ulrich Musolff (Hgg.): Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung. Zum Unterricht an westfälischen Gymnasien 1600-1750, Münster: Aschendorff 2009
Mit dieser Neuerscheinung setzt der Arbeitskreis für die Vormoderne in der Erziehungsgeschichte (AVE) seine Bemühungen fort, der Geschichte des Schul- und Erziehungswesens vor der Aufklärung verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Dass diese Verschiebung des Fokus' gewinnbringend ist, beweist auch dieser Band, der eine Reihe wertvoller Einzelstudien versammelt und von den Herausgebern unter eine klare erkenntnisleitende Fragestellung gestellt wurde.
Die Leitfrage - "Säkularisierung vor der Aufklärung?" - spricht ein durchaus nicht unbekanntes Grundproblem der vormodernen Bildungsgeschichte an: das Neben-, Mit- und Gegeneinander säkular-rationaler und konfessioneller Antriebsmomente, Strukturen, Themen, Medien und Akteure. Die Konfessionalisierungsforschung hat in den vergangenen Jahren naturgemäß den Blick stärker auf das religiöse Moment gerichtet, wobei Überzeichnungen nicht ausblieben, die zuletzt Stimmen auf den Plan riefen, die mit gewichtigen Argumenten beispielsweise nach den "Grenzen der Konfessionalisierbarkeit" (Anton Schindling) fragten. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder auf die überkonfessionelle und gemeineuropäische humanistische Bildungskultur verwiesen, die nicht nur mit ihrer Bezugnahme auf die Antike wichtige säkulare Themen und Inhalte transportierte. Die von den Herausgebern einleitend gestellte Frage, "ob [...] die frühe Neuzeit schon vor dem Durchbruch der Aufklärung etwas anderes aufwies als einen stetigen, umfassenden Einfluss der Religion auf alle Einrichtungen und Niveaus der Bildung" (1), wird man vor diesem Hintergrund durchaus schon jetzt bejahen können.
Durch den einführenden Beitrag von Hartmut Lehmann, der unter dem Titel "Auf der Suche nach der Säkularisierung vor der Aufklärung" einen begriffstypologischen Aufriss bietet, erhält der Band einen strukturgebenden Auftakt. Lehmann arbeitet in Anlehnung an Weber und Luhmann verschiedene Bedeutungsebenen - darunter Rationalisierung und funktionale Differenzierung - heraus und plädiert mit Blick auf die konfessionellen und sozialen Bedingungen in der Frühen Neuzeit für eine gewisse Vorsicht bei der Verwendung des Säkularisierungsbegriffs.
Die Herausgeber haben sich entschieden, die Beiträge des Bandes, je nachdem ob sie Säkularisierungsphänomene in ihren Untersuchungsgebieten feststellen konnten, in die Abteilungen "pro", "pro und contra" und "contra" einzuordnen. Auffällig ist, dass sich die unter "pro" versammelten Studien ausschließlich mit dem höheren Bildungswesen beschäftigen.
Hervorgehoben sei zunächst der Beitrag von Martin Wriedt. Der Autor widmet sich dem Bildungsprogramm der Wittenberger Reformation, in dem er trotz der von Luther und Melanchthon betonten Bedeutung der Bildung im Prozess der religiösen Erneuerung Anzeichen für eine unbeabsichtigte Säkularisierung erkennt. Wriedt geht stark von den theologischen Argumenten und Reformansätzen der Wittenberger aus, während die bekanntlich gleichermaßen wichtige Bedeutung des Humanismus für die Formulierung dieses Bildungsprogramms zwar Erwähnung findet (64), aber nicht in die Argumentation einbezogen wird. Dies überrascht, ist doch gerade bei Melanchthon das Bemühen zu erkennen, antike (also mithin heidnisch-säkulare) Wissensbestände in das neue universitäre Curriculum zu integrieren und funktional auf das Studium der Theologie auszurichten. Neben der Rolle der weltlichen Obrigkeit bei der Aufsicht über das Erziehungswesen erkennt Wriedt vor allem in einem "'utilitaristische[n]' Bildungsverständnis" und in einem "schleichende[n] Verlust der frömmigkeitlichen Dimension" der Bildung säkulare Tendenzen (67).
Jean-Luc LeCam untersucht einmal mehr die in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Braunschweig-Wolfenbüttel durchgeführte Schulreform und zeigt, dass einige der realisierten oder vorgeschlagenen Maßnahmen, so die Bestellung eines weltlichen Generalinspektors und die aus der Universität Helmstedt vorgeschlagene Autonomie des gelehrten Schulwesens gegenüber der Kirche, als zeitweilige säkularisierende Entwicklungen zu deuten seien. Das elementare Schulwesen war davon allerdings nicht betroffen. Hans-Ulrich Musolff ermöglicht gemeinsam mit Stephanie Bermges und Susanne Denningmann auf Grundlage umfangreicher quantitativer Erhebungen (Schülerverzeichnisse, Universitätsmatrikel) und qualitativer Untersuchungen (Gymnasialdisputationen) dem Leser detaillierte Einblicke in signifikante Verschiebungen der Unterrichtsinhalte und Disputationsthemen an drei evangelischen Gymnasien Westfalens zwischen 1600 und 1750. Die Autoren weisen dabei Frequenzkrisen nach, beschäftigen sich mit schulinternen Gegenstrategien, beschreiben das mit Konflikten verbundene Eindringen aufklärerischer Unterrichtsgegenstände und belegen das zeitweilige Vordringen säkularer Themen in den Schuldisputationen.
Während in den Institutionen der gelehrten Bildung im 17. und frühen 18. Jahrhundert durchaus ein gewisser Bedeutungszuwachs säkularer Unterrichtsgegenstände feststellbar ist, wie Sabine Holtz in Grenzen auch in ihrer Betrachtung der württembergischen Schulen zeigt, kommen die dem Elementarunterricht gewidmeten Studien überwiegend zu anderen Befunden. Kurt Wesoly weist in seinem breit angelegten Beitrag zum Elementarschulwesen im Herzogtum Berg vom 16. bis 18. Jahrhundert auf den fundamentalen religiös-konfessionellen Charakter des Unterrichts in den öffentlich unterhaltenen Schulen hin. Hier war der auf die Stärkung des konfessionsspezifischen Unterrichts zielende Einfluss der lokalen und territorialen Obrigkeiten aber nur so lange bestimmend, wie die praktischen Alphabetisierungs- und Qualifizierungsinteressen der Eltern damit in Einklang standen. Ebenfalls säkulare Elemente oder Säkularisierungstendenzen diagnostizieren Cornelia Niekus Moore in ihrem Beitrag zur lutherischen Erbauungsliteratur für Mädchen, Andreas Wendland hinsichtlich der kommunalen Verankerung des katholischen Schulwesens in der Eidgenossenschaft sowie Axel Oberschelp, der eine allmähliche Professionalisierung der Lehrer am Waisenhaus in Halle feststellt.
Die deutlichsten Einwände gegen die These von der Existenz "säkularisierender" Tendenzen im voraufklärerischen Bildungswesen werden aus der Perspektive des Mädchenschulwesens erhoben. Andreas Rutz betont den "Primat der Religion" im Zusammenhang mit der Entstehung eigenständiger Mädchenschulen während der katholischen Konfessionalisierung. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Juliane Jacobi, die evangelische Mädchenschulen in der Frühen Neuzeit untersucht. Eigenständige Mädchenschulen waren selbst in den Städten keineswegs die Regel. Stattdessen dominierten der Hausunterricht und die gemischt-geschlechtliche Unterweisung. Weitere Untersuchungen zur Erziehungspraxis in den konfessionsspezifischen Waisenhäusern in Augsburg (Thomas Max Safley), zur Lage des Elementarschulunterrichts in Schaumburg-Lippe (Stefan Brüdermann) und zur Studienwahl der Schüler der Lateinschule der Franckeschen Anstalten in Halle (Silke Brockerhoff) versammeln Belege, die für die ungebrochene Bedeutung konfessioneller Bildungsziele sprechen.
Stephanie Hellekamps fasst in ihrem Resümee die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen noch einmal zusammen. Ihr Fazit (348) fällt verglichen mit der ambitionierten Einführung leider etwas knapp aus. Die These, "am westlichen Rand" und im Südwesten des alten Reiches sei "die Zeit eines oft kaum unterscheidbaren Sich-Durchdringens von religiösen und säkularen Impulsen im Schulwesen früher zu Ende [gegangen] als in den östlichen Territorien" ist auf Grundlage des heutigen Forschungsstandes in dieser Deutlichkeit wohl kaum zu halten, zumal der vorliegende Band die zuletzt genannten Gebiete mit Ausnahme des Sonderfalls Halle nicht explizit behandelt.
Zahlreichen Autoren gelingt es, in ihren thematischen Zusammenhängen zumindest Elemente des von Lehmann vorgegebenen Säkularisierungskonzepts aufzuspüren. Ob allerdings jeder temporäre Bedeutungszuwachs säkularer Themen und Disziplinen beispielsweise im Programm gelehrter Schulen in diesem Sinne gedeutet werden kann, bleibt fraglich. Leider wird der privat-gewerblich betriebene Bildungssektor, der vielerorts mehr Kinder erfasste als die öffentlichen Schulen, nur im Beitrag von Kurt Wesoly (170-175) behandelt. Gerade in Privat- oder Winkelschulen konnten aber aufgrund schwacher obrigkeitlicher Kontrolle und in Abhängigkeit von der jeweiligen Bildungsnachfrage die konfessionellen Lehrgegenstände leichter reduziert und praktische Unterrichtsinhalte mitunter schneller Einzug halten als in öffentlichen Schulen. [1]
Anmerkung:
[1] Vgl. Thomas Töpfer: Schulwesen und städtische Gesellschaft. Grundprobleme der Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts am Beispiel Leipzigs, in: Historisches Jahrbuch 127 (2007), 175-207.
Thomas Töpfer