Margarete Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion (= Wissenschaftsgeschichte), Göttingen: Wallstein 2007, 277 S., ISBN 978-3-8353-0177-1, EUR 29,90
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Margarete Vöhringers Studie über "Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik in der frühen Sowjetunion" entstand als Teil eines Forschungsprojekts, das sich der "Experimentalisierung des Lebens" widmete, und erschien in der Reihe "Wissenschaftsgeschichte" - und das hat seine Richtigkeit. Denn obwohl das Buch auf einer Doktorarbeit basiert, die bei Horst Bredekamp im Fach Kunstgeschichte eingereicht wurde, liegen ihre Stärken nicht in der Analyse und in der Sachkenntnis der in ihr thematischen Kunst, sondern in der Erschließung von Zusammenhängen der sowjetischen Kunstproduktion der 1920er Jahre mit den Lebenswissenschaften, hier insbesondere mit verschiedenen Formen experimenteller und angewandter Psychologie. Vöhringers Arbeit ist dezidiert interdisziplinär angelegt und zeigt geradezu exemplarisch sowohl die Vorzüge als auch die Gefahren dieser weit ausgreifenden Arbeitsweise.
Die Ambitioniertheit des Unternehmens wird schon an der umfangreichen methodischen Einleitung und an den hermetisch klingenden Titeln der drei Hauptteile des Buchs deutlich, die die jeweiligen Interaktionen von Kunst und Wissenschaft als verschiedene Kulturtechniken bzw. als verschiedene Formen des "technischen Zugriffs auf die menschliche Psyche" (22) kategorisieren und diese zugleich metaphorisch als "Rückkoppeln", "Vernetzen" und "Pfropfen" benennen. Dabei gehe es, so die Autorin im Schlussteil des Buches, nicht um eine bloße Erweiterung des Wissens, sondern vor allem um "[...] eine Neueinschätzung von Kunst und Wissenschaft: Die russische Avantgarde war nicht etwa eine Bewegung der unerfüllten Theorien und Utopien, sondern der Experimentalpraktiken" (232). Ja, die gesamte sowjetische Kultur der 20er Jahre könne als eine Experimentalkultur betrachtet werden (20, 233). Vöhringers Untersuchung konzentriert sich folgerichtig auf die künstlerischen Praktiken und weniger auf die künstlerischen Selbstdeutungen. In ihrer Praxis lassen sich Künstler oftmals von den Methoden der Lebenswissenschaften leiten, aber auch umgekehrt verarbeiten Wissenschaftler in ihrem Metier Kunsterfahrungen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen den beiden Bereichen, ohne die fachspezifischen Unterschiede jedoch völlig einzuebnen (12). Zu einem der Ziele ihrer Arbeit erklärt die Autorin daher, "[...] die historische Konstellation durch etwaige disziplinäre Nebel hindurch scharf zu stellen: Nicht die Differenzen von Kunst und Wissenschaft oder ihre Gemeinsamkeiten waren im postrevolutionären Russland relevant, sondern das fast vollkommene Fehlen dieser akademischen Unterscheidung" (14). Beim Versuch, den "Neuen Menschen" zu erschaffen, kam der Psychologie eine Schlüsselrolle zu, die wissenschaftliche Erkenntnis der Mechanismen der Psyche sollte die Grundlagen zu deren Manipulation zur Verfügung stellen.
Im ersten Kapitel wird die architektonische Lehr- und Entwurfspraxis im Psychotechnischen Labor für Architektur vorgestellt, das 1926 von Nikolaj Ladovskij an den Moskauer VchUTEMAS (Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) gegründet wurde. Denn auch die Architekten gingen davon aus, dass "[...] die Formen, die moderne Wohnkonstruktionen annehmen, einen didaktischen Einfluss auf ihre Bewohner ausüben [...]" (75). In Ladovskijs Klasse wurde die räumliche Wahrnehmungsfähigkeit der Studenten mithilfe von eigens dazu entworfenen Apparaten gemessen und trainiert. Vöhringer argumentiert, dass sich diese Wahrnehmungsexperimente auf die Form der Architekturentwürfe auswirkte und in den augenscheinlichen Unterschieden zwischen den Rationalisten (Ladovskijs Schule) und den Konstruktivisten niederschlug. Die Architektur der Rationalisten sollte vor allem ihre Benutzer aktivieren und "[...] mit intellektueller Stimulierung und Beeinflussung versorgen [...]" (74), was zu vielfältigen, extravaganten Entwürfen führte.
Der zweite Teil stellt das physiologische Labor von Ivan Pavlov als den Ort vor, an dem Vsevolod Pudovkin 1925 mit den Dreharbeiten für seinen ersten Film begann. In der "Mechanik des Gehirns" dokumentiert Pudovkin die Tierexperimente Pavlovs, bei denen die bedingten Reflexe, deren Störungen und Veränderungen untersucht wurden. Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung schienen durchaus vielversprechend für eine künftige "Wissenschaft zur Entwicklung eines verbesserten menschlichen Typs" (so Pavlov selbst, 108). Gerade diese Konsequenz stellt der Filmemacher ins Zentrum seiner populärwissenschaftlichen Dokumentation. Vöhringer zeigt, dass Pudovkin seine Montagetechnik in Auseinandersetzung mit den experimentellen Methoden in Pavlovs Labor als ein diesen analoges Verfahren entwickelt hatte; beide erschließen Bereiche, die das bloße Auge nicht wahrnehmen kann. Pudovkins "Apparate-Ästhetik" (122) vergleicht die Autorin mit der literarischen und fotografischen Faktografie, die sich gegen die Behauptung einer neutralen Erfassung der Wirklichkeit wendet und die konstruktiven Aspekte der Dokumentation betont.
Im dritten Teil des Buches verlässt Vöhringer den engeren Bereich der Psychologie und der bildenden Kunst und widmet sich den zirkulären Bluttransfusionen, die in Moskau von Aleksandr Bogdanov entwickelt wurden. Auch diese Kulturtechnik speiste sich aus dem Glauben an die "[...] Möglichkeit einer sowohl geistigen als auch physischen Vervollkommnung des Menschen [...]" (173), bis Bogdanov selbst an den Folgen eines seiner Experimente verstarb. Seine Aufnahme in Vöhringers Buch verdankt er der Tatsache, dass er den Proletkult, die größte kulturpolitische Arbeiterorganisation, gegründet hatte.
Schon dieser knappe Überblick macht deutlich, dass es Vöhringers Buch gelungen ist, künstlerische Praktiken in der Sowjetunion der 1920er Jahre in Zusammenhänge zurück zu stellen, aus denen sie im Laufe der Zeit herausfielen. Es überzeugt durch eine detaillierte Darstellung der personellen, institutionellen und ideologischen Verflechtungen. Dies geht aber an manchen Stellen leider auf Kosten der Klarheit, was sich schon im Titel der Publikation zeigt. Es stellt sich nämlich die Frage, warum hier "Psychotechnik" und "Avantgarde" auftauchen, wenn die enger gefasste Psychotechnik lediglich bei Ladovskij eine Rolle spielt und man andererseits Bogdanovs Kunstauffassung kaum als avantgardistisch verorten kann, ohne den Begriff zu überdehnen. Die Antwort der Autorin, es läge an der "Verfassung der Avantgarde-Geschichtsschreibung", dass keiner der von ihr gewählten Akteure für seine Nähe zur russischen Avantgarde bekannt sei, überzeugt nicht wirklich. Die Behauptung befremdet hingegen angesichts der Tatsache, dass die wichtigsten neueren Publikationen der Avantgardeforschung, aber auch grundlegende ältere Beiträge in "Avantgarde und Psychotechnik" keine Berücksichtigung finden. [1] Auch Klassiker der Disziplin, wie Christina Lodders "Russian Constructivism", werden hier ignoriert, wenn El Lissitzky und Tatlin als die Haupt-Konstruktivisten auftreten. [2] Begleitet werden solche Verunklärungen von kleineren Ungenauigkeiten sowie einer auffällig schlechten Qualität der Schwarz-Weiß-Abbildungen [3], die die Problematik der Interdisziplinarität buchstäblich vor Augen führen.
Anmerkungen:
[1] So fehlen beispielsweise die wichtigen Publikationen zum Konstruktivismus von Maria Gough und Christina Kiaer, aber auch die von Boris Groys u.a. herausgegebenen Anthologien, die z.B. Interessantes zu Bogdanov enthalten. Felix Philipp Ingold weist in seiner Rezension auf andere bibliografische Lücken hin, vgl. ders.: Auf Seelensuche. Margarete Vöhringer über psychotechnische Experimente in der frühen Sowjetunion, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 30 (6. Februar 2008), 46.
[2] Zu den Antagonismen zwischen Tatlin und der konstruktivistischen Kerngruppe vgl. Christina Lodder: Russian Constructivism, New Haven / London, 95-97.
[3] Beispiele: falsch datiert ist Majkovskijs Slogan auf Seite 58 (1918 statt 1917 wäre richtig); auf Seite 44 vermisst man die Nennung des Proun-Raums von 1923; auf der Abb. 5, Seite 47 kann man kaum etwas erkennen und damit den Ausführungen der Autorin leider nicht folgen.
Magdalena Nieslony