Ulrich Niggemann: Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681-1697) (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 33), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 627 S., ISBN 978-3-412-20198-2, EUR 79,90
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Die Auswanderung französischer Hugenotten, insbesondere im ausgehenden 17. Jahrhundert, gehört zweifellos zu den bedeutendsten Migrationsbewegungen der gesamten Frühen Neuzeit. Dies gilt nicht allein im Hinblick auf die im Vergleich zu den demographischen Verhältnissen der Zeit herausragende Zahl der hugenottischen Migranten, sondern auch und vor allem für die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen ihrer Einwanderung. Obwohl der hugenottische Beitrag zur Entwicklung der Aufnahmeländer in den vergangenen Jahrzehnten durchaus kontrovers diskutiert und Überzeichnungen in der älteren Literatur dabei korrigiert wurden, ist die hugenottische Immigration als gelungener Integrationsprozess zu einem deutschen Erinnerungsort geworden, der auch in aktuellen politischen Debatten gerne evoziert wird. Unter anderen Vorzeichen prägte ein solcher "Hugenottenmythos" (20) auch das englische Geschichtsbild. Dass dieser Vorgang jedoch keineswegs konfliktfrei verlief, belegt nun detailliert die von Ulrich Niggemann vorgelegte Marburger Dissertation. Niggemann untersucht in komparatistischer Perspektive die Einwanderungspolitik in Deutschland und England von 1681 bis 1697 einerseits im Hinblick auf die Motive und die Instrumente der staatlich gelenkten Immigration, andererseits hinsichtlich der Reaktion der einheimischen Bevölkerung auf diese Immigrationspolitik und ihre Haltung zu den Einwanderern.
Nach einer kundigen Einleitung, die einen perspektivreichen Abriss der Historiographie- und Forschungsgeschichte zu den Hugenotten bietet, und einem konzisen Überblick über die Geschichte der Hugenotten in Frankreich sowie ihres Refuges analysiert Niggemann systematisch die "Instrumente und Intentionen" (61) der Einwanderungspolitik in England und ausgewählten deutschen Territorien. Dabei werden besonders die Privilegien in ihrer Funktion als "Instrumente der Immigrationspolitik" (63) und die Entwicklung (respektive namentlich in England das Fehlen) von besonderen Verwaltungsinstanzen für die hugenottischen Kolonien untersucht.
Im Anschluss analysiert Niggemann jeweils in einem eigenen Kapitel die Konflikte im Dreieck Zuwanderer, Obrigkeit und einheimische Bevölkerung auf fünf verschiedenen Gebieten. Diese Konfliktfelder betreffen erstens den Vorgang der Einwanderung und Ansiedlung, zweitens die ländliche Wirtschaft, drittens die städtisch-gewerbliche Wirtschaft, viertens die Stellung der Zuwanderer in ihrem jeweiligen Aufnahmeland im Hinblick auf Bürgerrecht, Justizwesen, Steuern, Abgaben und Dienste sowie fünftens das Problemfeld der Religionsausübung und der Kirchenverfassung. Die Zwischenergebnisse werden am Ende jedes Kapitels prägnant zusammengefasst, sodass trotz dieser thematischen Auffächerung und den differenzierten Fallstudien der Leitfaden der Argumentation stets sichtbar bleibt.
Sehr hilfreich ist auch das abschließende Resümee, in dem der Verfasser die Hauptergebnisse nicht nach den fünf den Hauptteil strukturierenden Konfliktfeldern geordnet resümiert. Vielmehr fasst Niggemann diese Teilresultate nun in einer dem Verständnis der historischen Zusammenhänge sehr dienlichen Weise im Hinblick auf die beteiligten Akteure zusammen, das heißt erstens hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Staat und den Immigranten, zweitens mit Blick auf den Staat und die einheimische Bevölkerung und drittens für die Beziehungen zwischen Letzterer und den Zuwanderern.
Eine detaillierte und materialreiche Konflikt-Analyse, wie sie Niggemann vorlegt (das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst beinahe siebzig Seiten, darunter finden sich staatliche Archivalien aus zehn deutschen Archiven sowie aus London und Oxford), muss sich thematisch, geographisch und chronologisch beschränken. Mit dem Kurfürstentum Brandenburg-Preußen, der Landgrafschaft Hessen-Kassel, dem Markgraftum Brandenburg-Bayreuth und dem Herzogtum (später Kurfürstentum) Braunschweig-Lüneburg-Calenberg wählt Niggemann neben England als außerdeutscher Vergleichsfolie vier deutsche Territorien aus, die eine quantitativ beachtliche Zuwanderung erlebten, sich aber in ihrer konfessionellen Zusammensetzung und Ausrichtung voneinander unterschieden, sodass hier sowohl durch die Gemeinsamkeiten als auch durch die Unterschiede ein Vergleich sinnvoll erscheint.
Während die Auswahl der Aufnahmeterritorien und der untersuchten Konfliktfelder überzeugend begründet wird, gelingt dies bei der Festlegung der chronologischen Grenzen weniger gut. Den nachvollziehbaren Beginn markiert das Einsetzen einer "massenhafte[n] Auswanderung" (32) französischer Hugenotten infolge des verschärften Vorgehens der Obrigkeit seit 1681, bereits einige Jahre vor dem Edikt von Fontainebleau (1685). Weniger eindeutig und überzeugend ist der Abschluss der Studie mit dem Friedensschluss in Rijswijk 1697. Der Autor konstatiert zwar "eine Verfestigung des Refuge" (33) um 1700, räumt aber selbst ein, dass die Frage, inwieweit die Refugiés nach Rijswijk ihre Hoffnungen auf eine zeitnahe Rückkehr in die Heimat begruben, noch näher erforscht werden müsste. Niggemann betrachtet diese Zäsuren jedoch zu Recht als 'weiche' Grenzen, von denen er im Bedarfsfall abweicht. Der Verfasser nimmt die schwierige, aber notwendige chronologische Eingrenzung also mit aller gebotenen Umsicht und Behutsamkeit vor, wenngleich eingewandt werden könnte, dass die in Hinsicht auf die Fallstudien zu Brandenburg-Preußen interessante, nach 1700 erfolgte Phase der Immigration der Exulanten aus dem Fürstentum Oranien/Orange damit ausgeblendet wird.
Niggemanns Studie vermag auch stilistisch und durch ihre bestechende Präzision sehr zu überzeugen. Eventuell mögen bei der punktuellen Benutzung des Werkes die aus den Quellen übernommenen Datierungen nach dem Julianischen Kalender für Missverständnisse sorgen, obwohl der Autor explizit auf diese Form der Datierung hinweist (X). Der Kurztitel Magdelaine, Reisen (54 Anm. 61) wird im Literaturverzeichnis nicht aufgelöst; gemeint sein dürfte der Beitrag "Reisen und Irrfahrten. Das Exil der Hugenotten" von Michelle Magdelaine aus dem von Sabine Beneke und Hans Ottomeyer herausgegebenen Katalog "Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten" (Berlin u.a. 2005).
Diese Quisquilien sollten jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass Niggemanns Werk einen Meilenstein der komparatistischen Forschung zur hugenottischen Migration darstellt, und zwar nicht nur durch seinen Beitrag zur Dekonstruktion des Mythos von einer weitgehend konfliktfrei verlaufenen Integration in die jeweiligen Aufnahmeterritorien, wobei "Integration" im Kontext frühneuzeitlicher staatlicher Politik ohnehin nicht mit Akkulturation und Assimilierung gleichgesetzt werden darf, sondern sich an dem Denkrahmen der ständischen Gesellschaft orientierte. Niggemann widerlegt die im Zeichen des Absolutismus-Paradigmas entwickelte Interpretation, der zufolge "Immigrationspolitik" auch in ihrer konkreten Ausgestaltung als Schöpfung des Fürsten, in konfessioneller Sicht oftmals als Toleranzakt, gedeutet wurde, auf welche die Untertanen mit Gehorsam oder (zur Verteidigung ihrer ständisch-korporativen Rechte und Privilegien gegen Eingriffe des absolutistischen Staates) mit Widerstand reagiert hätten. Der Verfasser sieht hier vielmehr einen kommunikativen und kompromissorientierten Prozess, in dem die konkreten Bedingungen der Ansiedlung in Verbindung mit den Zuwanderern und den Einheimischen ausgehandelt (mehrfach sogar von ihnen angeregt) wurden und nicht auf staatliche Zentralisierung noch auf eine Vereinheitlichung des Untertanenverbandes zielten, sondern ihm vielmehr zumindest in den deutschen Territorien (anders als in England) neue "Privilegiengemeinschaften" (70, 113, 413 u.ö.) in Form hugenottischer Kolonien hinzufügten.
Ferner sei der Protest der Einheimischen gegen die mit der Ansiedlung verbundenen allgemeinen Lasten und gegen die im ländlichen Raum angesiedelten Refugiés gering ausgefallen und habe keine grundsätzliche Ablehnung der Zuwanderung intendiert. Weder den Obrigkeiten, deren lokale Rechtskenntnisse sich erst im Laufe der entstehenden Konflikte präzisierten, noch den Untertanen sei es dabei um eine "Grundsatzauseinandersetzung" (283), sondern vielmehr um begrenzte, konkrete Ziele gegangen. Einen bedeutenden Konfliktherd bildeten die zünftischen Strukturen, die durch den Zuzug außerzünftiger Handwerker bedroht schienen. Doch nur in England kam es nach Niggemann im Zusammenhang mit einer angespannteren Arbeitsmarktlage und einem Umbruch gesellschaftlicher Strukturen zu einer ausgeprägten fremdenfeindlichen Haltung von Handwerkern und Gesellen, zu der schwierige Diskussionen um einen letztlich gescheiterten allgemeinen Naturalization Act und die Befürchtung eines verschärften konfessionellen Dissent getreten seien. Zu gravierenden Konflikten beim Recht auf die reformierte Religionsausübung sei es jedoch allein im lutherischen Brandenburg-Bayreuth gekommen, während bei der Kirchenverfassung wie auch in wirtschaftlichen Fragen zum Teil schärfere Konfliktlinien innerhalb der hugenottischen Gemeinden als zwischen diesen und den einheimischen Bevölkerungsgruppen verlaufen seien.
In verschiedener Hinsicht werden signifikante Unterschiede zwischen der Ansiedlung in deutschen Territorien und in England deutlich. Offensichtlich betrieb England im Gegensatz zu Ersteren keine veritable Anwerbungspolitik von hugenottischen Immigranten. Ferner stand Niggemann zufolge der in Deutschland favorisierten "korporative[n] Privilegierung" eine "individuelle Integration" (533) von Zuwanderern in England gegenüber. Dass die in den deutschen Territorien anzutreffende Orientierung an den altständischen Gesellschaftsstrukturen Konflikte abgemildert haben und bei der Integration von Zuwanderern gegenüber vermeintlich moderneren egalitären Gesellschaften geradezu im Vorteil gewesen sein könnte, ist die bedenkenswerte, aber hier nicht näher zu diskutierende Schlusshypothese des Verfassers.
Guido Braun