Rezension über:

Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2008, 416 S., ISBN 978-3-421-04358-0, EUR 24,95
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Martin Kohlrausch
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Martin Kohlrausch: Rezension von: Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/14973.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christopher Clark: Wilhelm II.

Textgröße: A A A

Zum 150. Geburtstag Wilhelms II. liegt Christopher Clarks Studie über Wilhelm II. in deutscher Übersetzung und erweiterter Fassung vor. Clark reiht sich damit ein in eine ganze Phalanx von Neuerscheinungen und Neuinterpretationen des letzten deutschen Kaisers. Zwischen dem dritten Band von John J.G. Röhls monumentaler und gewohnt kritischer Kaiserbiografie und Wilhelm II. eher wohlwollenden, in ihrer Anlage weniger ambitionierter, populärer Bücher nimmt Clark in der Bewertung Wilhelms II. eine Mittelstellung ein. Wilhelm II. wird als wesentlicher politischer Faktor des Kaiserreiches interpretiert, der aber engen Limitierungen unterlag, die sich für Clark nicht in den vor allem von Hans-Ulrich Wehler ins Feld geführten organisierten Interessen erschöpfen. Die Sicht auf Person und politisches Wirken Wilhelms II. ist weit von Rehabilitationsversuchen entfernt, allerdings versucht Clark durchgehend, den Spielraum Wilhelms II. zu hinterfragen und dadurch dem so alten wie ermüdenden 'Woran war der Kaiser schuld'-Spiel zu entkommen.

Dieser Ansatz spiegelt sich auch in der Gliederung, die vornehmlich der chronologischen Logik der Biografie folgt, dabei aber in neun Kapiteln die einzelnen Lebensabschnitte Wilhelms II. jeweils zu übergreifenden Fragen und Problemen synthetisiert. Im ersten Kapitel zu Kindheit und Jugend Wilhelms II. - bereits zu Lebzeiten des Kaisers ein Schlüsselthema der öffentlichen Diskussion - vermeidet Clark schwarz-weiße Schuldzuweisungen und weist etwa auf die Widersprüchlichkeiten des modernen Erziehungsansatzes von Wilhelms II. Eltern hin. Clark stellt aber auch heraus, wie sehr Wilhelm II. bereits früh mit dem Spiel um die Macht im Dreieck zwischen seinem Großvater, seinen Eltern und Bismarck konfrontiert wurde, ohne zu einem tieferen Verständnis der hier obwaltenden Regeln zu gelangen.

In den drei folgenden Kapiteln, die die innenpolitische Situation bis zum Ersten Weltkrieg in den Blick nehmen, diskutiert Clark die fast schon klassische Frage nach der Existenz eines persönlichen Regiments. Sein Fazit ist skeptisch. Während er in den ersten Regierungsjahren Wilhelms II., insbesondere in der Auseinandersetzung mit Bismarck, durchaus eine programmatisch unterfütterte Bereitschaft Wilhelms II. zu autokratischer Herrschaft sieht, erkennt er spätestens um 1900 ein mehr oder weniger stillschweigendes Einlenken des Monarchen. Das wahre politische Kraftzentrum verschob sich zunehmend in einen von komplexen Mechanismen bestimmten Raum zwischen Reichstag und - schwächer werdender - Exekutive. Insofern kann Clark auch den von John Röhl mit Bezug auf Norbert Elias ins Feld geführten Königsmechanismus nach 1900 nur mit Abstrichen erkennen. Wilhelm II. konnte aufgrund seiner Prärogativen ihm genehme Beamte einsetzen. Wie genau diese dann aber agierten, stand auf einem ganz andren Blatt. Zwar war insbesondere Bernhard von Bülow in starkem Maße von der Gunst des Monarchen abhängig. Die von ihm betriebene Politik spiegelte aber nur bedingt dessen Vorlieben wider.

Weitere drei Kapitel widmen sich der Außenpolitik Wilhelms II. Clark beschreibt Wilhelm II. als "unkündbare[n] Einzelkämpfer" (202), der schon institutionell nicht in der Lage war, eine gegenüber dem Auswärtigen Amt konkurrierende Außenpolitik zu orchestrieren. Allerdings konnte er eigenständig Signale aussenden und damit diplomatische Verhandlungen beeinflussen - meistens mit negativer Wirkung. Der Kaiser war Teil, aber weder Flucht- noch alleiniger Ausgangspunkt einer komplexen Interessenpolitik, in der er oft instrumentalisiert wurde. Ins Gewicht fällt, wie in der Innenpolitik, vor allem Wilhelms II. mangelnde Koordinationsfähigkeit.

Auf dieser Linie liegt auch Clarks Interpretation der Rolle Wilhelms II. in der Auslösung des Ersten Weltkriegs. In deutlichem Kontrast zu John Röhl betont er die durchaus zweischneidige Rolle des Kaisers, der weit stärker als andere deutsche Entscheidungsträger zwischen Krieg und Frieden schwankte. Zudem liefert Clark schlagende Beispiele für den 1914 noch weit mehr als zuvor eingeschränkten Handlungsspielraum des Kaisers. Im Krieg war Wilhelm II. dann noch stärker als in der Außenpolitik vor allem als hoffnungslos überforderter Koordinator wirksam.

Clark verbindet in seiner Darstellung fast durchgängig das einzelne treffende Beispiel mit einem systematisierenden Zugriff. Am klarsten wird dieser Ansatz in einem Kapitel zu Wilhelm II. und den Medien, das etwas quer zur sonstigen Struktur des Bandes liegt. Jenseits dessen, was die Politikgeschichte im engeren Sinne zu beantworten vermag, kann Clark hier die Chancen aufzeigen, die sich der Monarchie aus medial vervielfältigten und übersteigerten öffentlichen Erwartungen ergaben und gleichzeitig neuartige Handlungsbeschränkungen darlegen, die oft weitreichender waren als institutionelle Vorkehrungen.

Als Fazit steht also nicht so sehr eine Neubewertung - oder gar Rehabilitation - der Person Wilhelms II., sondern vielmehr eine an mehreren Punkten ansetzende Analyse, was monarchische Herrschaft in der Moderne, in einem hochkomplexen, dynamischen, aber auch politisch vielfach blockierten Industriestaat wie Deutschland heißen konnte. Clarks kluges Buch besticht weniger durch neue Forschungsergebnisse, obwohl es durchweg auf Höhe auch der neuesten Literatur argumentiert, als durch sehr prägnante, immer originelle und begründete Interpretationen, die auch Detailprobleme beständig gegenüber der bisherigen Deutung hinterfragen. Clark zeigt damit zahlreiche Perspektiven für eine Geschichte der modernen Monarchie auf, die ihren Gegenstand Ernst nimmt, ohne sich die gerade von deren späten Protagonisten vorgelebte Affinität zur Yellow-Press zum Erzählprinzip zu machen. Dass eine solche Geschichte nicht von der Person abstrahieren kann und sollte, versteht sich von selbst. Letztlich ist Clark auch ein zu guter Erzähler, um sich diesen Stoff entgehen zu lassen.

Bei gut 300 Seiten kann man Clarks Biografie nur bedingt mit Röhls monumentalem, weit über 4.000 Seiten umfassenden, Lebenswerk vergleichen. Clark liefert für die immer noch vielen eher generell an Wilhelm II. Interessierten die beste handliche Biografie auf dem Markt und für die Fachdiskussion eine Fülle von Anregungen, die die sicher so schnell nicht endende lebhafte Diskussion um die politische Rolle des letzten deutschen Kaisers nachhaltig bestimmen werden.

Martin Kohlrausch