Rezension über:

Christine Hikel / Nicole Kramer / Elisabeth Zellmer (Hgg.): Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 4), München: Oldenbourg 2008, 141 S., ISBN 978-3-486-58732-6, EUR 16,80
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Rezension von:
Christina Herkommer
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christina Herkommer: Rezension von: Christine Hikel / Nicole Kramer / Elisabeth Zellmer (Hgg.): Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/15716.html


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Christine Hikel / Nicole Kramer / Elisabeth Zellmer (Hgg.): Lieschen Müller wird politisch

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1918 erhielten Frauen das Wahlrecht. Damit war eine allgemeine Grundlage für die politische Partizipation von Frauen geschaffen, die in unterschiedlicher Weise genutzt, eingeschränkt, ausgeweitet, bekämpft und wieder ausgebaut wurde. Wie diese Partizipation von Frauen in unterschiedlichen politischen Systemen aussah, welches Potenzial sich für Mitbestimmung und Mitgestaltung ergab, welchen Problemen Frauen gegenüberstanden und wie sie auf diese Probleme reagierten, wird in dem Sammelband "Lieschen Müller wird politisch" analysiert. Die Beiträge gehen auf einen Workshop über die politische Partizipation von Frauen im 20. Jahrhundert zurück, der im Oktober 2007 in München stattfand.

In der Einleitung definieren die Herausgeberinnen zunächst das titelgebende "Lieschen Müller" und erläutern seine Herkunft, um dann mit "Geschlecht", "Staat" und "Partizipation" die drei Analyseleitlinien vorzustellen, die als Grundlage für die Sammelbandbeiträge dienen. "Geschlecht" soll dabei zwar akteurszentriert betrachtet werden, aber nicht allein die Sichtbarmachung von Frauen als handelnde Subjekte beinhalten, sondern zeigen, wie Frauen die vorhandenen Rollenmuster und Partizipationsmöglichkeiten aufnahmen. Mit der Analyseleitlinie "Staat" verweisen die Autorinnen vor allem auf die unterschiedlichen politischen Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts, vor deren Hintergrund Frauen für ihre Rechte stritten, und verdeutlichen die Bedeutung der daraus entstehenden Entwicklungen und Brüche der Partizipation von Frauen. "Partizipation" wird in einem erweiterten Sinn verstanden und explizit nicht auf demokratische Systeme beschränkt, sondern auch auf Partizipationsmöglichkeiten in Diktaturen und totalitären Systemen übertragen.

Vor diesem theoretischen und strukturgebenden Hintergrund ist der Sammelband in fünf thematische Abschnitte gegliedert, die jeweils die in der Einleitung dargelegten Analyseleitlinien widerspiegeln und darüber hinaus immer wieder das Spannungsfeld zwischen Demokratie und Diktatur und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Möglichkeiten der Partizipation von Frauen am politischen Feld reflektiert.

Der erste Abschnitt befasst sich mit "Frauen als Staatsbürgerinnen in Demokratie und Diktatur". Elizabeth Harvey widmet sich in ihrem Beitrag vor allem der Frage nach Politik und Raum. Sie zeigt die Bedeutung des Raumes für die Partizipation von Frauen und verweist dabei z.B. auf die durch die Frauenbewegung in den 1970er Jahren kritisierte Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum, aber auch auf andere räumlich konnotierte Begriffe, wie etwa Mobilität oder (Geschlechter-)Sphäre. Harvey steckt damit ein noch kaum bearbeitetes Forschungsfeld ab und zeigt, wie die Politisierung und Partizipation von Frauen in verschiedenen Bereichen und den unterschiedlichen politischen Systemen über eine Betrachtung des Raumbegriffs sichtbar gemacht werden kann.

Michael Schwartz analysiert in seinem Beitrag die unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten von Frauen im geteilten Deutschland. Er geht auf verschiedene Phasen der Partizipation von Frauen am politischen Feld in West- und Ostdeutschland ein, verweist auf die Themen (Frauenerwerbstätigkeit, Frauenbildung, Selbstbestimmung etc.), die sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands zentral waren und zeigt Unterschiede und Ähnlichkeiten im Vergleich der beiden deutschen Staaten aber auch im Vergleich zu anderen west- und osteuropäischen Ländern.

Die Beiträge des zweiten Abschnitts befassen sich unter der Überschrift "Systemwechsel und Mitgestaltung" in erster Linie mit den Möglichkeiten der Partizipation von Frauen nach der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1918. Christiane Streubel setzt sich mit radikalnationalistischen Redakteurinnen auseinander, die die Mittel und Möglichkeiten des demokratischen Staates nutzten, um sich Gehör zu verschaffen, sich aber gleichzeitig gegen diesen Staat wendeten.

Um die Möglichkeiten der Mitgestaltung durch Frauen - wenn auch unter extrem eingeschränkten Bedingungen - geht es auch in dem Beitrag von Sylvia Rogge-Gau zu jüdischen Frauen in Selbsthilfeorganisationen in den Jahren von 1933 bis 1939. Rogge-Gau beschreibt die Aufgaben und Probleme der jüdischen Selbsthilfe und betont besonders, dass vor allem die Frauen helfen konnten, die bereits zuvor politisch aktiv waren und auf Erfahrungen und Netzwerke zurückgreifen konnten.

Im dritten Abschnitt geht es um die Partizipation von Frauen am Nationalsozialismus und ihre "Integration in den totalen Staat". Christoph Kühberger untersucht dazu auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene die Beteiligung von Frauen an politischen Feierlichkeiten des Nationalsozialismus. Er hält fest, dass Frauen auf nationaler Ebene zwar an den Feierlichkeiten beteiligt waren, jedoch vor allem als passive Masse. Auf regionaler und lokaler Ebene seien Frauen hingegen stärker und aktiver eingebunden gewesen. Kühberger kommt zu dem Schluss, dass Frauen so zwar ihren Aktionsradius ausweiten, jedoch kaum Einfluss auf die Politik nehmen konnten.

Nicole Kramer befasst sich mit Frauen im Nationalsozialismus, die in NS-Frauenorganisationen aktiv waren. Vor allem die Beteiligung von Frauen am Krieg, die sich in erster Linie in Hilfsdiensten zeigte, steht dabei im Zentrum der Untersuchung. Kramer liefert dazu zunächst eine Analyse des Begriffs "Hilfe" und definiert ihn als Zuarbeit von Frauen, ausgerichtet auf die männliche Tat. Diese Hilfe oder Zuarbeit kann laut Kramer als politisch eingestuft werden, da Frauen zwar in den engen Grenzen des NS-Regimes agierten, aber dennoch Gestaltungsmacht besaßen und sich Räume erschlossen und damit durchaus an der Politik partizipierten.

Der vierte Abschnitt "Mitbestimmung in der neuen Demokratie" analysiert die Möglichkeiten der Mitbestimmung für Frauen nach Ende des Nationalsozialismus. Beate von Miquel verweist in diesem Zusammenhang auf die Rolle der evangelischen Frauenverbände. Diese hätten zwar Erfahrungen in politischer Partizipation in der Weimarer Republik gesammelt, dieses Engagement habe jedoch vor allem im Verbund mit nationalkonservativen Parteien gestanden und in dieser Form nicht wieder aufgenommen werden können. Stattdessen war laut von Miquel eine Neuausrichtung der politischen Partizipation gefordert, die letztlich in neuen Beteiligungsformen jenseits des parteipolitischen Engagements ihren Ausdruck fand.

Anna Schnädelbach befasst sich mit den Partizipationsstrategien der Kriegerwitwen, die einen nicht unbedeutenden Anteil der weiblichen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten und mit besonderen sozialen und psychologischen Problemen konfrontiert waren. Schnädelbach setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Partizipation der Kriegerwitwen als politisch bezeichnet werden kann. Sie unterscheidet dazu zwischen konventioneller Partizipation im Bereich von Verbänden und Vereinigungen und unkonventioneller Partizipation, die individuell und nicht politisch motiviert war, aber dennoch in ihrer Konsequenz als politisch zu bezeichnen sei.

Christine Hikel zeigt am Beispiel Inge Scholls, der Schwester von Sophie und Hans Scholl, dass Partizipation an aktuellen politischen Diskursen auch über Erinnerung stattfinden kann. Inge Scholl bot laut Hikel nach 1945 mit ihren Erinnerungen an den Widerstand der "Weißen Rose" unbelastete Identifikationspunkte. Sie konnte sich am politischen Diskurs beteiligen, indem sie den Widerstand in die diskursiven Muster der Nachkriegspolitik einbettete, die von Begriffen wie Freiheit und Demokratie geprägt waren.

Im abschließenden fünften Abschnitt zu "Protest und Polarisierung in beiden deutschen Staaten" werden die neuen Frauenbewegungen in West- und Ostdeutschland und ihre Partizipationsmöglichkeiten und -strategien analysiert. So zeigt Elisabeth Zellmer am Beispiel des Frauenforums München e.V. welche neuen Formen der Partizipation durch die Frauenbewegung entstanden. Diese waren vor allem durch die Parole "das Private ist politisch" geprägt und beinhalteten nicht mehr nur institutionalisierte Formen der Partizipation und den Kampf um Frauenrechte. Vielmehr stand der Kampf gegen stereotype Rollenzuschreibungen im Vordergrund, der in erster Linie mittels des Protests und der Aktion geführt wurde.

Eva Sänger befasst sich mit der Frauenbewegung in der DDR und den Möglichkeiten der Partizipation, die sich in einem autoritären System boten. Sänger hält fest, dass die Frauenbewegung in der DDR zunächst aus informellen Gruppen bestand, die aus der Friedensbewegung entstanden. Eine Beteiligung am politischen Diskurs fand nicht statt, da laut Sänger keine Öffentlichkeit vorhanden war, in der offen hätte diskutiert werden können, sondern lediglich eine Scheinöffentlichkeit, die alle nicht regierungskonformen Meinungen ausschloss. Dennoch führte die Organisation von Frauen in informellen Gruppen dazu, dass 1989 ein "Unabhängiger Frauenverband" gegründet werden konnte, der zeitweilig öffentlichkeitswirksame Positionen beziehen konnte und am öffentlichen politischen Handeln der Wendezeit partizipierte.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Sammelband auf hohem analytischem Niveau einen aufschlussreichen Einblick in die verschiedenen Phasen der politischen Partizipation von Frauen vermittelt. Besonders hervorzuheben ist, dass in allen Beiträgen auf die in der Einleitung dargelegten Analyseleitlinien "Geschlecht", "Staat" und "Partizipation" zurückgegriffen wird, was einer bei Sammelbänden durchaus üblichen Partikularisierung der einzelnen Beiträge entgegenwirkt und ein interessantes Gesamtbild vermittelt.

Christina Herkommer