Rezension über:

Amnon Raz-Krakotzkin: The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century. Translated by Jackie Feldman (= Jewish Culture and Contexts), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2007, viii + 314 S., ISBN 978-0-8122-4011-5, GBP 45,50
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Rezension von:
Dirk Sadowski
Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur e.V. an der Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Wendehorst / Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Sadowski: Rezension von: Amnon Raz-Krakotzkin: The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century. Translated by Jackie Feldman, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/14466.html


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Amnon Raz-Krakotzkin: The Censor, the Editor, and the Text

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Die weit reichenden Folgen des Übergangs von der Manuskriptkultur zum Buchdruck, wie sie als Erste Elizabeth L. Eisenstein in ihrer Studie "The Printing Press as an Agent of Change" (1979) beschrieben hat, machten sich auch in der sakral geprägten Wissenskultur der Juden bemerkbar, nachdem in Italien in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts die ersten hebräischen Bücher gedruckt worden waren. Der Siegeszug von halachischen Codizes wie des 'Schulchan aruch' oder die Ausbreitung der Lurianischen Kabbala sind ohne die Erfindung Gutenbergs unvorstellbar. Einer der bestimmenden Faktoren im Kontext von hebräischem Buchdruck und jüdischer Wissens(re)produktion war bis in die Moderne hinein die Zensur jüdischer Bücher durch kirchliche oder weltliche Institutionen. Amnon Raz-Krakotzkin, der an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva jüdische Geschichte lehrt, wendet sich in seiner 2005 auf Hebräisch erschienenen und seit 2007 auch in englischer Übersetzung vorliegenden Studie der katholischen Zensur hebräischer Bücher im 16. Jahrhundert zu. Er situiert seinen Untersuchungsgegenstand exakt im Kontext der durch den Buchdruck hervorgerufenen Transformation von Wissen und Lektüren und betrachtet ihn vor dem Hintergrund der allgemeinen Ausweitung kirchlicher Kontrolle über das geschriebene und gedruckte Wort zur Zeit der Gegenreformation. Dabei gelingen Raz-Krakotzkin bemerkenswerte Einsichten in die Bedingungen und Mechanismen der kulturellen Produktion und Rezeption von Texten und in das damit verbundene religiöse und mentale Gefüge von Juden und Christen in ihrem Verhältnis zueinander.

Anders als frühere jüdische Historiographen sieht Raz-Krakotzkin in der katholischen Bücherzensur nicht vorrangig einen repressiven Akt. Zensur ist für ihn nicht nur das Ausradieren von Begriffen und Bedeutungen, sondern eine hochkomplexe diskursive Praxis, zu vergleichen mit dem redaktionellen Edieren und der Korrektur von Texten. Als Vorzensur war sie wie jene Tätigkeiten in der frühneuzeitlichen hebräischen Druckwerkstatt angesiedelt, einem Raum, in dem der Zensor - häufig ein Konvertit - mit dem meist christlichen, hebraistisch interessierten Druckunternehmer und den jüdischen Herausgebern und Korrektoren in einen Dialog trat, in dessen Verlauf das zu Streichende wie das zu Erhaltende des Textes ausgehandelt wurden. 'Zikkuk', Läuterung, lautete der hebräische Begriff, der zumindest bis in die 50er Jahre des 16. Jahrhunderts für die Praktiken des Edierens und des Expurgierens gleichermaßen Verwendung fand. Raz-Krakotzkin leugnet nicht das repressive, gewalttätige Element der Zensur, doch handelte es sich ihm zufolge zugleich um eine hermeneutische Praxis: "We can consider censorship as a kind of commentary, even if it left violent marks on the text" (110).

Die brutalste Form kirchlicher Kontrolle und päpstlichen Machthandelns gegenüber dem Korpus des gedruckten jüdischen Wissens war die Verbrennung des Talmud in Rom, Venedig und weiteren Städten Italiens im Jahre 1553, deren Hintergrund und Folgen Raz-Krakotzkin im ersten Kapitel seines Buches beschreibt. 1554 folgte das Verbot des Drucks und Besitzes des Talmud, 1559 wurde er auf den 'Index librorum prohibitorum' gesetzt. Doch auch diese von den zeitgenössischen Juden als Katastrophe interpretierten Ereignisse hatten ihre andere Seite; Repression und Akzeptanz gingen Hand in Hand. Denn während der Talmud aufgrund seiner symbolischen Bedeutung und als "häretisches" Werk gebannt und verbrannt wurde, blieb das sonstige Korpus jüdischer Literatur weitgehend unangetastet, waren zum Beispiel die religionsgesetzlichen Codizes ausdrücklich erlaubt: "We should look not only at what was prohibited, but also at what was permitted. [...] The condemnation and burning of the Talmud was thus intended to reestablish the boundaries and was associated with the legalization of Jewish practice" (54). An dieser originellen wie provokanten Feststellung lässt sich eine der zentralen Thesen des Werkes ablesen: Die Zensur hatte neben ihrer repressiven und restriktiven Natur auch eine konstruktive Seite. Während sich ihr expurgativer Zugriff im Wesentlichen auf die polemischen, gegen das Christentum gerichteten Elemente der Texte beschränkte, beließ sie zentrale Manifestationen des jüdischen Glaubens und der Halacha in den Werken intakt. Durch das Ausstreichen autorisierten die Zensoren zugleich bestimmte Texte und Lesarten und sorgten damit für eine Bestätigung autonomer jüdischer Kultur und Existenz.

Kapitel 2 und 3 des Buches beschreiben die Institutionalisierung der Zensur hebräischer Literatur von den Beratungen des Konzils von Trient in den Jahren 1562/63 hinsichtlich Wiederzulassung oder Verbot des Talmud über die Schaffung einer besonderen päpstlichen Kommission zur Zensur jüdischer Literatur im Rahmen der Indexkongregation im Jahre 1578 bis hin zu den Versuchen der Aufstellung spezieller 'Indices expurgatorii' zur zensoriellen Behandlung hebräischer Werke. Kapitel 4 beschreibt das komplexe Geschehen in den hebräischen Druckwerkstätten als denjenigen Orten, an denen die Zensurprinzipien umgesetzt wurden. Das dialogische Zusammenwirken der Protagonisten dieses Geschehens geschah Krakotzkin zufolge innerhalb eines "hebraistischen Diskurses" (so u.a. 83, 180), der den intellektuellen Umgang zwischen Juden und Christen bestimmte und in dessen Rahmen der Zensor danach strebte, die Texte für ein interessiertes christliches Publikum lesbar zu machen, ohne dabei die jüdische Lektüre zu stark einzuschränken.

Im fünften Kapitel, dem längsten und stoffreichsten, wendet sich Raz-Krakotzkin der Stellung der Zensur im Prozess der Transformation kulturellen Bewusstseins zu. Als Ausgangspunkt dienen ihm die Zensurregeln, die der konvertierte Zensor Domenico Gerosolimitano im Jahre 1596 in seinem 'Sefer ha-zikkuk' ('Buch der Läuterung') aufstellte. In jenen Regeln, deren Mehrzahl auf die Entfernung anti-christlicher oder als anti-christlich verstandener Begriffe aus den hebräischen Texten zielte, erkennt der Autor wie in den zu expurgierenden Begriffen selbst das Echo der religiösen Polemik des Mittelalters. In Gestalt der Zensur hatte sich die einst öffentliche Polemik als intellektuelle Diskussion in die Druckwerkstätten verlagert, anders als jene wirkte die Zensur nicht zerstörerisch, sondern konstruktiv. Während die polemisch-diffamierenden Begriffe gestrichen wurden, blieb das Korpus der Halacha erhalten, selbst dort, wo ihre Gesetze auf die Bewahrung des Distinktiven zielten. Bei theologischen Streitfragen markierte die Bemerkung des Zensors 'tsarich ijun' ('Dies erfordert sorgfältige Prüfung') die Ambiguität zensorieller Praxis, die viele der strittigen Passagen unangetastet ließ.

Was bedeutete das Ausstreichen der anti-christlichen Passagen für das mentale und kulturelle Geflecht der Juden in der Frühen Neuzeit? Der Autor erblickt in jenen polemischen Begriffen Elemente einer Kultur der Mündlichkeit; in der jüdischen Lebenswelt hatten sie als Termini der Abgrenzung über Jahrhunderte eine zentrale Rolle bei der Definition der eigenen Zugehörigkeit gespielt und ihren Niederschlag in den Texten gefunden. Einmal aus diesen gestrichen, traten sie mehr und mehr aus dem kollektiven Bewusstsein zurück und verloren sukzessive ihren identitätsprägenden Charakter. Doch war die Zensur weniger Auslöser als vielmehr Teil eines umfassenderen kulturellen Prozesses der Neudefinition von jüdischer Zugehörigkeit in der Frühen Neuzeit, in dessen Verlauf konfrontativ-polemische Haltungen gegenüber Christen abgebaut wurden und die Grenzen der eigenen Zugehörigkeit in positiven Begriffen formuliert wurden. Einen Anhaltspunkt für diese These findet Raz-Krakotzkin unter anderem in der freiwilligen, offensichtlich nicht der Furcht vor Repression geschuldeten Entfernung anti-christlicher Passagen in den hebräischen Druckereien bereits vor der Institutionalisierung der Zensur und der Festlegung entsprechender Regeln. Als Kronzeugen für den von ihm beschriebenen Prozess führt der Autor das fiktive Gespräch zwischen einem Priester und dem spanischen König in Salomo Ibn Vergas 'Schevet Jehuda' ('Die Geißel Judas', ca. 1520) an. Der Ausgangspunkt von Ibn Vergas Definition jüdischer Zugehörigkeit, die ohne Polemik auskommt und vielmehr die Gemeinsamkeiten beider Religionen betont, ähnele dem des Zensors: "Both of them [der jüdische Autor und der christliche Zensor, D.S.] participated in the creation of a common context in which Jewish difference was reaffirmed and reestablished in new terms" (177).

Raz-Krakotzkins Thesen vom vermittelnden und konstruktiven, eine separate jüdische Existenz in christlichem Umfeld befestigenden Wirken der Zensur, die ihrerseits von Arbeiten Robert Bonfils zur Rolle des Ghettos bei der kulturellen Entwicklung der italienischen Judenheit im 16. Jahrhunderts inspiriert sind, erweisen sich als so provokativ wie anregend. So scheinen sie geeignet, bisher eingeübte Vorstellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Christen und Juden in der Frühen Neuzeit ebenso zu hinterfragen wie auch die gemeinhin gezogenen Grenzen zwischen vormoderner und moderner jüdischer Zugehörigkeit. Und Amnon Raz-Krakotzkin wäre nicht der Analytiker modernen jüdischen (und israelischen) Geschichtsbewusstseins, als der er sich unter anderem einen Namen gemacht hat, wenn er nicht zum Schluss seines Werkes mit einer originellen Einsicht über die Gemeinsamkeiten zwischen dem Zensor des 16. Jahrhunderts und dem modernen Historiker jüdischer Geschichte aufwarten würde: Teilt nicht letzterer die Werte und Ziele des Zensors, indem er versucht, jüdische Geschichte und Literatur in die allgemeine Geschichte und Kultur zu integrieren, wobei er sich der Konzepte und Instrumente der hegemonialen Kultur bedient und die polemischen Elemente, die eine so zentrale Rolle bei der Ausprägung mittelalterlicher jüdischer Zugehörigkeit spielten, ausblendet, expurgiert?

Dirk Sadowski