Heidi Grundmann / Elisabeth Zimmermann / Dieter Daniels et al. (eds.): Re-inventing Radio. Aspects of Radio as Art, Frankfurt M.: Revolver Archiv für aktuelle Kunst 2008, 544 S., ISBN 978-3-86588-453-4, EUR 25,00
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Es ist sicherlich ein günstiger Zeitpunkt: In den Radiosendern ist der digitale Umbruch gerade mit voller Wucht angekommen und die Programmverantwortlichen ringen mit neuen Konzepten, die ihre ins Netz abwandernden Hörer halten sollen, da berichtet ein Buch von der Neuerfindung des Radios. Der Untertitel 'Radio als Kunst' formuliert allerdings einen hohen Anspruch an ein Massenmedium, das schon lange vor dem Fernsehen zum 'Begleitmedium' geworden ist. Was kann "Re-Inventing Radio" ausrichten?
Re-Inventing Radio bildet mit fast 550 Seiten eine umfassende Anthologie. Künstlerinnen und Künstler und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bündeln ihre Kräfte. Neue Texte von einer gleichnamigen Tagung im Januar 2007 stehen neben älteren Schlüsseltexten. Auf der einen Seite steht eine sehr theorienahe und konzeptionell angelegte Kunst. Auf der anderen Seite zeichnen sich nicht wenige der wissenschaftlichen Beiträge durch eine spekulative Lesart der Geschichte und Zukunft des Mediums aus. Und manchmal wechseln Künstlerinnen und Künstler auch die Seiten, etwa wenn Brandon Labelle darlegt, wie in der Verbindung von Kunst, Architektur und Medien schon in den 1950er Jahren das Prinzip des One-to-many-Sendeturms in ein urbanes Feedback-System überführt wurde.
In der Regel stellen die Radiokünstlerinnen aber ihre Arbeit und damit ihren Begriff von Radio und Radiokunst dar: Tom Sherman, Anna Friz, GX Jupiter-Larsen, Sergio Messina, Bill Fontana, José Iges, Matt Smith/Sandra Wintner, Hank Bull, Roberto Paci Dalò, Lori Weidenhammer, Winfried Ritsch, August Black, Johannes Auer, Robert Adrian, Norbert Math, Andrew Garton und weitere eröffnen ein breites Spektrum künstlerischer 'Reflexionen' des Radios, die gleichwohl immer im konzeptionellen Rahmen des Wiener Kunstradio-Begriffs bleiben - bzw. diesen bilden, denn die hier verhandelte Radiokunst ist nicht 'die', sondern 'eine' Radiokunst, deren Tradition seit 1987 von der ORF-Kunstradio-Redaktion und 'sympathisierenden' Partnern, etwa in Kanada, gepflegt wird.
Der Radiokunst-Begriff nimmt folglich einen erheblichen Teil der theoretischen Erörterungen ein. So wie er hier diskutiert wird, geht er auf den Geist einer kritischen, kollaborativen Telekommunikationskunst der 1970er und 1980er Jahre zurück und wurde später im ORF-Kunstradio auf ein verbundenes Modell ('On Air - On Line - On Site') ausgeweitet.
Strategisch schließt Radiokunst nach José Iges an Viktor Shklovskys Idee der 'ostranenie' an, demzufolge eine gezielte Entwöhnung, Verfremdung, Befremdung dem Medium gegenüber die Möglichkeit eröffnet, es neu zu denken. Robert Adrian definiert die Radiokunst des ORF-Kunstradios darüber, dass sich Radio nicht im Sendestudio, sondern am Ort seines Empfangs ereignet, wo es sich im alltäglichen Kontext mit anderen Klängen vermischt. Daraus folgt, dass der Wert von Radiokunst nicht in der Übermittlung einer werkimmanenten Bedeutung, sondern in der prozessualen Emergenz von Bedeutung beim Hörer besteht. Dieses konstruktivistische Grundverständnis greift Tetsuo Kogawa auf, wenn er Radiokommunikation nicht mit dem Sender-Empfänger-Modell, sondern als strukturelle Kopplung zweier Punkte erklärt. Radiokunst wäre demnach eine 'Re-Kopplung', und Kogawas Mini FM-Netzwerke würden nicht Broadcasting durch Narrowcasting ersetzen, sondern das 'Casting'-Prinzip durch die Verkoppelung von Übertragung und Rezeption.
August Black setzt einem alten Radiomodell, gebildet aus Broadcast-Prinzip, Signal und Hörer ein neues Radiomodell entgegen, das stattdessen Netzwerk-Prinzip, Daten und Nutzer kennt. Über die Telekommunikationskunst hinaus sieht Heidi Grundmann die Ursprünge der Radiokunst auch in den künstlerischen Avantgarden seit den 1910er Jahren (u.a. beim italienischen Futuristen Marinetti) und bei utopistischen Theoretikern (u.a. Khlebnikov). Ihr amüsantes Resumé dazu lautet, dass deren Vorhersagen allesamt falsch waren, außer der einen: dass das Radio Gesellschaft und Kunst grundlegend verändert hätte. Vergleichbares ereignete sich übrigens Jahrzehnte später mit dem Internet: alles kam anders, vor allem als man dachte.
Das zweite große Themenfeld bilden medienarchäologische Betrachtungen der Vor- und Frühzeit des Radios. Beiträge über die Vor-Rundfunk-Zeit von Wolfgang Hagen zur Epistemologie der Radioparadigmen der USA (Welle) und Europas (Funke), von Wolfgang Ernst zur Elektronenröhre zwischen Radio- und Computergeschichte und von Daniel Gethmann zur Rolle der United Fruit Company zwischen Wirtschaftkolonialismus und Technologiekonzern illustrieren die Instrumente des medienarchäologischen Ansatzes. Dieser widerspricht der in der Mediengeschichte häufig implizierten Annahme, dass jene Medienausprägungen, die die Zeit nicht überdauert haben, unzureichend funktionierten. Nach der medienarchäologischen Argumentation können auch in diesen 'Dead Media' Konzepte enthalten sein, die sich zu einem anderen Zeitpunkt gewinnbringend umsetzen lassen. Abgelegte Konzepte wie die hier wiederholt beschworene 'Radioanarchie' in den USA vor 1920 sind es daher wert, so das Credo, immer wieder auf Möglichkeiten ihrer Aktualisierung überprüft zu werden.
Unter Bezug auf diese Ära vor dem Radioboom weist Dieter Daniels der Radiokunst die Funktion zu, das Radio immer wieder neu zu erfinden und dabei unnachgiebig Versuche zu unternehmen, verschüttete ästhetische und kommunikative Potentiale der Anfangszeit in neuer technologischer Gestalt, etwa mit Hilfe von Web 2.0-Anwendungen, aufleben zu lassen. Der Prozess des 'Radiowerdens', das hebt neben vielen anderen auch der Beitrag "Becoming Radio" von Anna Friz hervor, ist niemals abgeschlossen und in der jetzigen Zeit des digitalen Umbruchs verstärkt im Gange.
Umfassend und äußerst bereichernd arbeiten die zusammengestellten Beiträge die Bezüge der Radiokunst zu Konzept- und Performance-Kunst als historische Momente der Dematerialisierung und Verzeitlichung von Kunst, zu Mail Art und Telekommunikationskunst, aber auch zur wilden Frühzeit der Erfindungen und der Radiobastler heraus. Besonders deutlich wird dabei, dass utopische Elemente und gesellschaftspolitische Werte dieser Avantgarden wie zum Beispiel Egalität bzw. flache Hierarchie, Prozess- statt Werkverständnis, Kollaboration statt individueller Autorschaft als Ideale in die Radiokunst eingeflossen sind.
Man darf allerdings nicht enttäuscht sein, wenn der auf dem Cover ankündigte Fokus auf die Übernahme des Radiofrequenzbandes durch das Mobilfunknetz sich im Text so nicht findet. Das Buch ist historisch angelegt: Vor allem KünstlerInnen kommen hier zu Wort, die schon seit Jahr(zehnt)en das Radio nutzen. Mobilfunkanwendungen spielen hier nur eine geringe Rolle, man muss sie woanders suchen.
Umgekehrt greift die Cover-catch line "radio is not about the transmission of sound, but of signal" kürzer, als es das Buch selbst tut, spricht sie doch der sinnlichen Klangerfahrung jede Bedeutungsrelevanz ab. Wird in diesem Buch dennoch der analytische Zugriff auf 'musikalische Form' oder 'Komposition' im Radiokontext angesprochen, bleibt er, wie bei Wolfgang Ernst, auf den Verweis auf die sprichwörtliche Nähe zwischen Musik und Mathematik in der Musik des Okzidents beschränkt.
Christian Scheib spricht daher treffend von einem >prekären Verhältnis zwischen Musik und Radiokunst<. Er touchiert mehrmals den Konflikt zwischen "Kunstradio ideology" und "music-making-attitude" der Ars Acustica Kölner Prägung. Scheib hält sich aber bedeckt bei der Gretchenfrage, welches Verhältnis die (Wiener) Radiokunst denn zum Klang habe und belässt es bei der Formulierung "[...] a materiality of sound is replaced or supplemented by a materiality of communication." (314, Hervorhebung hinzugefügt). Die Nachfolger der Kölner Ars Acustica, repräsentiert z.B. durch Radioarbeiten von Murray Schafer, Mauricio Kagel oder Asmus Tietchens, die den Karl-Sczuka-Preis des SWR erhalten haben, basieren auf den Paradigmen des Komponierens und der musikalischen Form und sind trotzdem Radiokunst, weil sie das Radio als wesentliche Materialquelle und strukturelle Referenz verwenden. Diese Radiokunst ist heute weniger einig und weniger Theorie-affin. Aber eine herausfordernd gut gemachte theoretische Vorlage liegt mit "Re-Inventing Radio" vor. Würde man mit einem Gegenentwurf in eine ernsthafte Diskussion einsteigen, würde das die Chancen steigern, dass (die) Radiokunst dabei ist, wenn das Radio neu erfunden wird.
Golo Föllmer