Verena Schöberl: "Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt ... Es heißt Europa". Die Diskussion um die Paneuropaidee in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1922-1933 (= Gesellschaftspolitische Schriftenreihe der Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2008, 404 S., ISBN 978-3-8258-1104-4, EUR 34,90
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"Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt ... Es heißt Europa." So klagte 1938, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, der den Untergang des alten Europa besiegelte, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, der Gründer der ältesten europäischen Einigungsbewegung. Wie vor ihm Thomas Mann, Albert Einstein und andere Mitglieder der Paneuropaunion floh auch der Sohn eines k. u. k. Diplomaten aus Südböhmen 1938 vor dem Zugriff der NS-Diktatur in die USA. In Hitlers Reich war die 1923 von Coudenhove gegründete Organisation von den Nationalsozialisten längst verboten worden.
Kurz nach dem deutsch-französischen Ruhrkampf, der das Menetekel des Nationalismus noch einmal in grellen Farben an die Wand Europas gemalt hatte, war Coudenhoves Programmschrift "Pan-Europa" erschienen und rasch zu einem Bestseller geworden. Die "Europäische Frage", so schrieb Coudenhove dort, gipfele in drei Worten: "Zusammenschluß oder Zusammenbruch". Die einzige Rettung des vom Krieg geschwächten Kontinents vor dem Wirtschaftsimperialismus des neuen "Welthegemons" USA und der kommunistischen Herausforderung durch die Sowjetunion liege in einem Staatenbund "von Polen bis Portugal". Die Europaidee, die Coudenhove-Kalergi in seiner zukunftsweisenden Gedenkschrift 1923 skizzierte, war allerdings noch nicht sehr ausbuchstabiert: Ob Europäischer Staatenbund, ob Vereinigte Staaten von Europa, ob starke supranationale Kompetenzen für eine Europäische Union oder nicht - da schien sich der Graf selbst nicht so ganz sicher.
Auf welche Resonanz die noch sehr interpretationsfähige Europautopie in den großen europäischen Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien stieß, untersucht Verena Schöberl anhand der reichen Presselandschaft der Zwischenkriegszeit. Sie kann aufzeigen, welche Faktoren einem größeren Erfolg der Paneuropaunion im Wege standen: Coudenhove habe zu viel vorgegeben und mit Europa "gleichzeitig die Struktur der Welt und des Völkerbunds" reformieren wollen; auch habe seine Persönlichkeit, übrigens auch von Konrad Adenauer als zu schwärmerisch und abgehoben empfunden, "eine große Projektionsfläche für diffamierende Urteile" geboten. Zudem sei sein Streben, Anhänger aller Parteien für Paneuropa zu gewinnen, an der Realität tiefer gesellschaftlicher Gräben in allen drei Ländern vorbeigegangen, und auch sein Ansatz einer Elitenorganisation sei im Zeitalter politischer Massenbewegungen ein Anachronismus gewesen. So bezeichnete Carl von Ossietzky Paneuropa in der Weltbühne als einen "Gedanken im Frack".
In Deutschland fand die Paneuropaidee ihre wichtigste Basis bei den Parteien der Weimarer Koalition, verfügte also niemals über eine Mehrheit in der Öffentlichkeit. In Frankreich ließen sich vor allem die (links-)liberalen Radicaux, an der Spitze Edouard Herriot, für das Konzept einnehmen. Doch schon die französischen Katholiken, so Schöberl, hätten sich damals "mehr für den Papst als für Europa" interessiert. Bemerkenswert auch, dass die meisten Paneuropäer in beiden Ländern sich für eine Mitgliedschaft Großbritanniens in den zu schaffenden Vereinigten Staaten von Europa aussprachen - und zwar vor allem aus Furcht, ansonsten mit dem großen Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins allein gelassen zu sein. Auf der Insel selbst aber, die damals noch der zentrale Teil eines Empire war, blieb das Echo sehr verhalten. Anders als in Frankreich und Deutschland schaffte Paneuropa es im Vereinigten Königreich nicht einmal auf die Titelseite einer Zeitung. Sozialistische wie konservative Politiker und Publizisten argumentierten vor allem mit der Priorität des bestehenden Völkerbundes und dem Verhältnis zu den USA ("Der Kanal ist breiter als der Atlantik"). Allerdings ist dabei zu bedenken, dass Coudenhove selbst die Insel zunächst aus dem europäischen Staatenbund hatte ausschließen wollen und sich erst später revidierte.
Über das engere Thema hinaus bietet die materialreiche Studie auch Informationen über die Rezeption Paneuropas in den Staaten Ostmitteleuropas, die angesichts der vor einigen Jahren erfolgten Osterweiterung der real existierenden Europäischen Union von einigem Interesse sind. So waren die sich von Moskau bedroht fühlenden baltischen Staaten die ersten, die der Paneuropaunion finanzielle Unterstützung angedeihen ließen. Dagegen galt in Polen, in der Tschechoslowakei oder in Jugoslawien die gerade errungene nationale Souveränität als unantastbar. Die polnische Paneuropaunion litt nicht nur darunter, dass ihr Vorsitzender Alexander Lednicki als russophil galt, sondern auch an der inszenierten deutsch-französischen Verbrüderung auf den Paneuropakongressen. Ohnehin stand Paneuropa in Warschau unter dem Verdacht, nur als Vehikel deutscher Hegemonie auf dem Kontinent zu dienen.
Dagegen war der tschechoslowakische Außenminister Edvard Beneš sogar Ehrenpräsident der Paneuropaunion. Allerdings war Beneš nicht zuletzt wegen der Unterstützung der Paneuropaidee durch wichtige französische Politiker (bis hin zu Aristide Briand) dazu veranlasst worden, sich selbst Paneuropa gegenüber freundlich zu verhalten. Beneš wollte den tschechoslowakischen Staatsbürger Coudenhove an sich binden, um die Paneuropaunion unter Kontrolle zu halten. Der böhmische Graf selbst hat später jedenfalls recht kritisch über den "tschechischen Nationalisten" geurteilt. "In der Theorie" sei Beneš Paneuropäer gewesen, aber nicht in der Praxis. Er habe "jede mögliche paneuropäische Sicherung seiner Landesgrenzen" gewollt, aber keinen wirksamen Schutz der deutschen Minderheiten. Und er habe den Abbau der Zollgrenzen gegenüber Osteuropa erstrebt, "um den nationalen Markt der Tschechoslowakei zu erweitern, aber keine Zollunion mit Deutschland aus Furcht vor dessen Konkurrenz."
Man muss derartige Positionen nicht mit manchen politischen Strömungen auf der Prager Burg während der EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens 2009, ein Dreivierteljahrhundert später, korrelieren, um die mentalitätsgeschichtliche Relevanz der Studie von Schöberl zu erkennen. Zwar weist die Doktorarbeit einige Eierschalen auf und man hätte sich stellenweise eine breitere Einbettung der zutage geförderten Pressediskurse in die innen- und vor allem parteipolitischen Konstellationen der untersuchten Länder gewünscht, doch trägt die Studie dazu bei, wichtige Aspekte der Geschichte der Paneuropaunion zu dokumentieren.
Manfred Kittel