Ilaria Pavan: Il podestà ebreo. La storia di Renzo Ravenna tra fascismo e leggi razziali, Bari / Roma: Editori Laterza 2006, 305 S., ISBN 978-88-420-7899-9, EUR 18,00
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Die Geschichte von Renzo Ravenna ist ohne Beispiel. Er war der erste und einzige Jude, der nach dem sogenannten Marsch auf Rom im Oktober 1922 zum Bürgermeister ernannt wurde; von 1926 bis 1938 hielt er sich in diesem herausgehobenen Amt - und zwar in Ferrara, einer frühen Hochburg des Faschismus, in der bis weit in die dreißiger Jahre hinein die eigentliche Nummer Zwei des Regimes und Mussolinis wichtigster Gegenspieler, Italo Balbo, fast uneingeschränkt herrschte.
Ein speziell gelagerter Sonderfall ohne größeren Erklärungswert für die Geschichte des Faschismus und der Juden in Italien? Im Gegenteil: Ilaria Pavan, eine junge, in Pisa lehrende Historikerin, versteht es nämlich, die einfühlsam geschilderte Biografie eines jüdischen Bürgermeisters mit einer Skizze der Geschichte Ferraras im Faschismus, mit einer Analyse der dortigen jüdischen Gemeinde und mit der Darstellung einer alten, weitverzweigten Familie zu verknüpfen, die nach 1943 auseinandergerissen und in den deutschen Vernichtungslagern fast ganz ausgelöscht wurde. Wer darüber etwas wissen will, der greife zu Giorgio Bassanis "Die Gärten der Finzi-Contini" und "Ferrareser Geschichten" - oder eben zu Ilaria Pavans "Der jüdische Bürgermeister", der in Bassanis großer Dichtung übrigens ebenso vorkommt wie andere von Pavan behandelte Ferraresen aus Ravennas Umfeld, die damals - so oder so - von sich reden machten.
Renzo Ravenna stammte aus einer begüterten, weitgehend assimilierten jüdischen Familie, die sich in ihrem Stolz auf das italienische Vaterland und ihre Heimatstadt Ferrara kaum übertreffen ließ. Wie viele seiner Altersgenossen aus den jüdischen Gemeinden packte auch ihn 1914/15 das nationalistische Fieber: Er befürwortete den Kriegseintritt Italiens, wurde eingezogen und kehrte erst 1919 hochdekoriert aus dem Krieg zurück, um das Jurastudium abzuschließen und in Ferrara als Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker zu arbeiten. Bestimmend wurde hier seine lebenslange Freundschaft mit Italo Balbo, dem faschistischen "Kurfürsten" von Ferrara, der Ravenna unter seine Fittiche nahm und nach Kräften protegierte. Dabei war der Jude aus gutem Hause kein Faschist der ersten Stunde und schon gar kein schlagkräftiger Squadrist. Balbo schätzte und brauchte den besonnenen Juristen, der etwas von Verwaltung und Geld verstand und - wichtiger noch - allgemein großes Ansehen genoss, während er selbst lange mit Imageproblemen als hemdsärmeliger Haudrauf zu kämpfen hatte.
Ravenna gab der Lokal- und Regionalherrschaft von Balbo ein seriöses Gesicht und stieg deshalb immer weiter auf: Er wurde zum Stadtrat, dann zum Chef der städtischen Organisation des Partito Fascista und schließlich 1926 in das Amt des Bürgermeisters berufen, in dem er fast ganz aufging und offenkundig Beachtliches leistete. In seine Amtszeit fiel eine kulturelle Renaissance Ferraras; vor allem aber tat er viel, um die Infrastruktur zu stärken und die Industrialisierung der Stadt zu forcieren. In einem Nachruf aus dem Jahr 1961 hieß es sogar, Ravenna habe das "moderne Ferrara konzipiert."
Kein Wunder also, dass der jüdische Bürgermeister breite Zustimmung genoss; selbst der Bischof zählte zu seinen engen Freunden. 1934/35 begann das Klima aber umzuschlagen - nicht nur in Ferrara übrigens, sondern in ganz Italien, wo nun gezielt Juden aus führenden Positionen in Staat und Gesellschaft entfernt wurden. Der Druck ging vom Innenministerium in Rom aus, das dafür freilich zahlreiche Rezeptoren vor Ort fand, die den Druck von oben verstärkten und ihm eine Art plebiszitärer Legitimation verschafften. Ravenna konnte sich offenkundig nur dank Balbos Schützenhilfe halten, hatte von nun an aber gegen zahlreiche offene und verdeckte Anfeindungen zu kämpfen.
Im Frühjahr 1938 - die Kampagne gegen die Juden steuerte auf ihren Höhepunkt zu - griff das Innenministerium Ravenna erneut an. Es verlangte seine Absetzung, wobei als einzige Begründung die jüdische Abstammung Ravennas genannt wurde, und setzte sich damit auch gegen den Willen Balbos durch; im März 1938 schied Ravenna vorgeblich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt.
Der Erlass der Rassengesetze im Herbst 1938 hatte einschneidende Folgen für die jüdischen Gemeinden Italiens. Auch in Ferrara, wo man damals noch 700 bis 800 Juden zählte, sahen sich die Glaubensbrüder und- schwestern Ravennas zahlreichen Schikanen ausgesetzt; unter anderem mussten 77 jüdische Schüler und zehn Lehrer und Professoren die öffentlichen Schulen verlassen. Betroffen waren auch die Kinder Ravennas, der nun auch noch aus der faschistischen Miliz ausgeschlossen, aus dem feinen Bürgerclub verdrängt und aus den Streitkräften entlassen wurde. Er konnte aber weiter als Rechtsanwalt arbeiten und es gelang ihm auch, sein altes Netzwerk aus Freunden und Bekannten aufrechtzuerhalten, zu dem auch viele bekennende Katholiken und überzeugte Faschisten gehörten. Bemerkenswert war vor allem das Verhalten von Italo Balbo, der sich nicht scheute, mit Ravenna einen Urlaub am Meer zu verbringen und sich demonstrativ mit ihm im Zentrum Ferraras zu zeigen, wenn er seine Heimatstadt besuchte.
Ravenna dachte deshalb auch nie an Flucht oder Emigration. Das änderte sich im Herbst 1943, als im von den Deutschen besetzten Norditalien überall Verhaftungen und Razzien einsetzten. In Ferrara ging man dabei besonders drastisch vor. Die Deportationen, so Pavan, seien von den "Autoritäten der Republik von Salò mit extremer bürokratischer Effizienz" ins Werk gesetzt worden (166). Ravenna entzog sich diesem Mordprogramm durch Flucht in die Schweiz, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern überlebte, während acht seiner engsten Verwandten in den Vernichtungslagern des Ostens den Tod fanden.
Alles deutet darauf hin, dass sich Ravenna nach 1938 vom Faschismus zu lösen begann und 1943 schließlich ganz mit ihm brach. Das hieß aber nicht, dass sich seine nationalistische Bindung an sein Heimatland gelockert und dass er seine eigene Rolle im faschistischen Regime kritisch hinterfragt hätte. Er definierte sich als loyaler Diener seiner Stadt, der sich aufgeopfert hatte und dafür schlecht entlohnt worden war. Er empfand sich als Opfer und legte sich nie Rechenschaft darüber ab, dass er auch Täter gewesen war und einem verbrecherischen Regime gedient hatte. Dazu passte, dass er bis zu seinem Tod 1961 alles unternahm, um Italo Balbo zu rehabilitieren; dieser blieb in seinen Augen der bewunderte Freund - den skrupellosen Faschisten, der Balbo auch gewesen war, blendete er einfach aus.
Einseitigkeiten dieser Art gehörten zu Ravennas Überlebensstrategie und sie ermöglichten ihm wohl auch die Reintegration in Ferrara, wo nach 1945 hinter der Fassade linker Dominanz vieles beim Alten geblieben war. Ilaria Pavan hat seine Geschichte nacherzählt - mit viel Fingerspitzengefühl, auf der Basis gründlicher Quellenrecherchen und immer auf der Höhe der neuesten Forschung, die an den tiefen autochthonen Wurzeln der Rassengesetze und an der engagierten Mitwirkung zahlreicher Faschisten am nationalsozialistischen Judenmord keinen Zweifel mehr lässt. Entstanden ist so schließlich ein kleines Meisterwerk, das am Einzelbeispiel zeigt, was Juden im Faschismus widerfahren konnte. Hoffentlich wird es bald ins Deutsche übersetzt.
Hans Woller