Detlef Altenburg / Lothar Ehrlich / Jürgen John (Hgg.): Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 367 S., ISBN 978-3-412-20094-7, EUR 39,90
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Der aus einer Weimarer Tagung im Herbst 2006 hervorgegangene Sammelband, der sich erfreulich interdisziplinär und international darstellt, verfolgt einen spannenden methodischen Ansatz, der sich nur auf den ersten Blick auf den Ort und seine Region begrenzt: Also auf Thüringen und dessen Stilisierung bzw. Selbstverständnis als "Wertezentrum der Nation". Zu verschiedenen Zeiten und mit verschiedenen Schwerpunkten suchten fast alle europäischen Gesellschaften Regionen zu "erfinden", die ihrem jeweiligen politischen Verdichtungsprozess in besonderer Weise entsprachen, mit denen sich aber auch Emotionen verbanden, die in Richtung national-chauvinistischer Selbstfindungsprozesse entsprechend "instrumentalisiert" werden konnten und insofern Teile eines ideell und strukturell bestimmten Sinnstiftungsvorgangs waren. Der Ansatz geht von einem Weimarer Drittmittelprojekt über "Deutschlands Mitte - Die Stilisierung einer Region zum Wertezentrum einer Nation" aus, verfolgt vergleichbare Prozesse aber auch in einer Reihe anderer europäischer Staaten, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf Ostmitteleuropa liegt.
Diese "Europäisierung" des Ansatzes lag auch deswegen nahe, weil das Konzept von der imaginierten deutschen Mitte häufig dann überging zu wissenschaftlich-kulturellen Denkmodellen, die dieselbe Region geradezu zur europäischen Mitte und zum metaphorischen "Herzen Europas" stilisierten. Diese Narrative und Denkmuster mit all ihren emotionalen Unterlagerungen arbeitet mit großer Präzision und Kompetenz und mit überraschenden Einblicken der Einleitungsessay des Mitherausgebers Jürgen John heraus, der auch die ganze Raumdiskussion mit Einschluss des raumbezogenen Neuordnungsdenkens in ihr jeweiliges zeitgeschichtliches Umfeld einordnet. Die Parallelitäten und Überlappungen des Mitte-Deutschland- und Mitte-Europa-Denkens sind erstaunlich, entziehen sich freilich in beiden Fällen einem ganz klaren geografischen Bezugssystem. Anhand der Ausbildung der Denkmalbewegung in Frankreich, England und Deutschland fragt Astrid Swenson nach den Interferenzen von Erbekonzepten und Raumkonstruktionen, wobei sie als ein wichtiges Ergebnis hervorhebt, wie schwer es die einschlägigen Vereine, die aus den Heimatbewegungen hervorgegangen waren, hatten, eine überregionale, also nationale Basis zu finden, sie gleichwohl dann aber eine gemeinsame Erinnerungskultur schufen, die für die europäische Zivilisation stand. Dem "Mythos Moderne" in Frankreich widmet Jakob Vogel einen lesenswerten Essay, der mit seiner Fokussierung auf die Technik einen häufig vernachlässigten Aspekt der nationalen Sinnstiftungsprozesse zu seinem Recht kommen lässt - nationale Technikkultur und ein entsprechendes technisches Ausbildungssystem sozusagen als Ausweis von Fortschrittlichkeit. Während Matthias Middell anhand zweier Schneisen - Nationalbibliotheken, deutsches Universitätsmodell? - den integrativen Charakter des Nationalisierungsprojekts mit transnationalen Lernprozessen in einen Zusammenhang bringt, fasst Peter Jordan überblickartig vor allem den ostmittel- und südosteuropäischen Raum ins Auge und stellt neben den sich erst seit dem 19. Jahrhundert verdichtenden nationalen Identitäten einen festeren Untergrund an regionalen Identitäten fest. Während mich Helge Høibraatens Vergleich von Herders Entdeckung des Nordens mit Hans Sedlmayrs Konzept des "Verlusts der Mitte" etwas ratlos zurückgelassen hat, erschließt Justus H. Ulbricht mit den (bremischen) Dichterpredigten ein spannendes Quellenkorpus, das die Formierung eines sakral überhöhten Nationalismus aus einer ungewohnten Perspektive beleuchtet. Rüdiger Haufe beschäftigt sich mit der Metapher des - auf Thüringen applizierten - "Grünen Herzens Deutschlands" bis hin in die moderne Tourismuspraxis und bis in seine transnationale Ausstrahlung hinein, während Monika Gibas sich den Vorstellungen von Industrielandschaften zuwendet, für die "Mitteldeutschland" in ähnlicher Weise als Paradigma herhalten musste. Einer Studie über den Metropolendiskurs am Beispiel Budapests (Emilia Palonen) folgen zwei Studien zum nach 1989 neu entdeckten Regionalismus in Polen: Zu einer 1990 im ehemaligen Ostpreußen ins Leben getretenen Kulturgemeinschaft namens "Borussia" (Leszek Żyliński), die darauf zielt, die ostpreußische Kulturlandschaft ethnienübergreifend zu einem Referenzpunkt zu machen; und zum anderen zur Stilisierung Zakopanes zu einem weit über die Tatraregion hinausweisenden und vor allem von der Musik beförderten nationalen Wertezentrum des neuen Polen (Stefan Keym). Zwei weitere Aufsätze gehen den mit deutschen bzw. englischen Musikfesten verbundenen Raumvorstellungen nach (Thomas Radecke, James Deaville). Ob der abschließende, an sich ganz amüsante Beitrag von Alexander Rehding in diesem Band richtig platziert wurde, bleibe dahingestellt.
Der Band verbindet den mit dem Schlagwort vom spatial turn fassbaren neuen Raumdiskurs mit den in der Geschichtswissenschaft konjunkturell hochstehenden erinnerungs- und identitätskulturellen Ansätzen. Alles in allem ist eine Reihe sehr anregender Beiträge zusammengekommen, wiewohl, wie mir scheint, nicht alle die Leitfragen wirklich aufgenommen haben und der eine oder andere Aufsatz auch verzichtbar gewesen wäre. Register und Abbildungen fehlen leider.
Heinz Duchhardt