Hermann Wellenreuther (ed.): The Revolution of the People. Thoughts and Documents on the Revolutionary Process in North America, 1774-1776, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2006, 358 S., ISBN 978-3-938616-42-0, EUR 36,00
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Mit dieser Kombination aus Aufsatzsammlung und Quellenedition wollen die Autorinnen und Autoren den besonderen Charakter des revolutionären Prozesses in den nordamerikanischen Kolonien als einer "Revolution des Volkes" - nicht der Eliten und der Ideen - herausarbeiten. Sie folgen damit einem schon einige Jahre anhaltenden Großtrend der Forschung, der sich von dem unfruchtbar gewordenen Streit über die "ideologischen Ursprünge" und die intellektuellen Quellen des Protests (republikanischer Tugenddiskurs vs. liberaler Individualismus) abgewandt hat. Vielmehr geht die jüngere Forschung der ganz konkreten Einwurzelung revolutionären Gedankengutes "im Volk" nach und der politischen Praxis bei der Revolutionierung der Bevölkerung in regionalen und lokalen Kontexten.
Wie andere vor ihnen heben Wellenreuther und seine beiden Mitarbeiterinnen auf die Bedeutung der "Committees of Inspection and Observation" ab, revolutionärer Ausschüsse, die die Beschlüsse des Kontinentalkongresses vor Ort umsetzten. [1] Diese zwangen die Menschen, "Farbe zu bekennen", indem sie das Unterschreiben von "Assoziationen", d.h. Erklärungen patriotischer Loyalität, ebenso einforderten wie die Teilnahme am Boykott britischer Waren.
Die Rolle dieser "Assoziationen" wird in dem vorliegenden Band in zwei Aufsätzen dargestellt, während ein dritter Aufsatz sich der Rolle von Predigten widmet. Hermann Wellenreuther ("Associations, The People, Committee of Observation and Inspection and the Culture of Rights, 1774-1776") stellt die Aktivitäten der "Associations" und das Entstehen einer amerikanischen "culture of rights" im großen Überblick dar. Die Assoziationen hätten nicht nur dazu beigetragen, revolutionäres Gedankengut zu popularisieren und gegen den Widerstand loyal zur Krone stehender oder neutral gesonnener Amerikaner durchzusetzen. Vielmehr hätten sie den revolutionären Prozess über die zur Durchsetzung der Assoziationen gewählten Komitees verbreitert und einen "amerikanischen" Wertekanon überhaupt erst definiert. (8 f.) Wellenreuther betont den holzschnitzartigen Charakter der Deklarationen, die zentrale, für weite Kreise anschlussfähige Forderungen proklamierten, aber keine sehr elaborierten intellektuellen Konzepte vertreten hätten. Nirgendwo fänden sich Zitate von Locke, Rousseau, Harrington usw. (64) Diese ironisch pointierte Formulierung machte Prozesse der Diffusion intellektueller Höhenkammliteratur in der Breite aber doch etwas zu stark an der Nennung bestimmter Namen fest. Wellenreuthers Text (wie auch die übrigen Texte) werden durch hilfreiche Tabellen ergänzt, etwa zum formellen Rückzug der Gouverneure oder zu Anzeigen in kolonialen Zeitungen.
Marion Stange ("Defining a Nation: Patriotic Associations, 1774-1776"), konzentriert sich in ihrem Beitrag auf eine Textanalyse der "Associations". Sie schildert den Bedeutungswandel bestimmter Schlüsseltermini ("liberty", "property", "honour", "virtue", "religion") und zeigt, inwiefern deren Evolution die Entwicklung einer "amerikanischen" Identität widerspiegelte. Es überrascht nicht (und auch das ist keineswegs neu), dass die Distanz zu Großbritannien im Untersuchungszeitrum wuchs, dass aus "Rechten der Engländer", für die sich die Kolonisten anfänglich eingesetzt hatten, "amerikanische Freiheiten" als Kernkonzept des Widerstandes wurden. Stange perzipiert eine Verschiebung des Bedeutungshorizontes von "amerikanisch", das sich von einem geographischen zu einem identifikationsstiftenden Begriff wandelte. Damit einher ging eine Übertragung der primären Loyalität von der einzelnen Kolonie auf Amerika als Ganzes. Auch hier kann Stange auf z.T. neuer und breiterer Quellenbasis der Forschung weitere Facetten hinzufügen. Indes zeigte sie wie auch Wellenreuther eigentlich nicht, wie "das Volk" da mitmachte. Es werden eben die Quellen der Assoziationen zitiert, in denen die lokale Elite sich artikulierte.
Ein dritter Aufsatz von Wellenreuther ("From the Past to the Future of 'American Israel': Sermons in the American Revolution") gibt einen souveränen Überblick über die Rolle von Predigten bei der "Verbreitung, Legitimierung, Konzeptualisierung und Rationalisierung revolutionärer Ideen" ( 92). Wellenreuthers Typologie eines allmählichen Übergangs von anti-englischem zu pro-amerikanischen Grundduktus in religiös gefärbten Diskursen überzeugt. Es irritiert aber, dass er im Gegensatz zu der offensiven Grundthese des Bandes anhand der Predigten nun erneut gerade nicht die Einwurzelung einer "amerikanischen Identität" bzw. die Revolutionierung des Bewusstseins der Bevölkerung zeigt. Dazu hätte es einer sozialgeschichtlich kontextualisierenden Untersuchung der Reaktionen auf diese Predigten bedurft. Vielmehr zitiert auch Wellenreuther Verlautbarungen von Mitgliedern der Elite, zu der man Prediger wohl zählen darf. Angesichts der Quellenlage dürfte es vermutlich auch keine Alternative zu diesem "top down approach" geben. Indes nimmt auch Wellenreuther die (plausible) Behauptung für den Beweis, dass Predigten "mehr bewirkt hätten als Pamphlete und Abhandlungen". (124) Die Wirkungsgeschichte bleibt letztlich bei ihm genauso außen vor wie bei der von ihm kritisierten Literatur.
Der umfangreiche Quellenanhang druckt ohne weiteren Kommentar die Texte aller (?) Assoziationen von 1774 bis 1776 ab. Zwar wurden diese bereits an entlegener Stelle publiziert und sind auch in elektronischer Form zugänglich. Die Texte der Assoziationen handlich in einem Band versammelt zu haben, ist von praktischem Wert. Ähnlich verhält es sich mit den Anzeigen der "Committees of Inspection and Observation" aus zwei neuenglischen Zeitungen, der Boston Gazette und der Providence Gazette. Leider macht die knappe Einleitung zum Quellenteil nicht transparent, ob es sich hier ebenfalls um einen vollständigen Abdruck aller in diesen Zeitungen publizierten Anzeigen der Komitees handelt oder ob nach bestimmten Kriterien eine Auswahl getroffen wurde. Wellenreuther erwähnt in seiner Einleitung zum Gesamtwerk, dass er 15 "Protokolle" der Komitees gesammelt habe (8). Ob diese (unpublizierten?) Dokumente mit den abgedruckten Anzeigen partiell identisch sind, wird nicht ersichtlich. Kritischen editorischen Standards genügt der Quellenanhang nicht, ungeachtet der mit dem Sammeln und Transkribieren dieser Quellen verbundenen stupenden Arbeit, deren prinzipielle Verdienste durch diese Kritik an der mangelnden Transparenz der Editionsprinzipien nicht geschmälert werden sollen.
Der Gesamteindruck ist daher ambivalent: Die Autorinnen haben quellengesättigte Studien zur Herausbildung eines revolutionären amerikanischen Selbstverständnisses vorgelegt. Indes können die in sehr kritischer Abrechnung mit der bisherigen Literatur formulierten Thesen erstens empirisch nicht ganz überzeugend untermauert werden, weil auch der vorliegende Band letztlich die Perspektive des politisch aktiven revolutionären Parts der Bevölkerung spiegelt. Zweitens wird der Innovationsgrad der hier vorgelegten Arbeiten doch übertrieben. So zitiert Wellenreuther zwar zustimmend die Arbeiten von Timothy Breen u.a. zum Konsumentenboykott. Indes: Hat eine moderne intellectual history der Revolution den sozialen Kontext wirklich so völlig außer Acht gelassen, wie Wellenreuther zu behaupten scheint? Kommt eine derartige Kritik nicht 20 Jahre zu spät? Wurde nicht die durch das Titelbild visualisierte Entscheidungssituation (der britische Cartoon: "The Alternative of Williams Burg") und die damit einhergehende Gewalterfahrung der Revolution von vielen Regionalstudien und vor allem der Forschung zu den Loyalisten herausgearbeitet und damit der Prozess der Revolutionierung der Gesellschaft auch schon früher aufgezeigt. [2] Um zu verstehen, wie erfolgreich und einflussreich "im Volk" die revolutionären Komitees letztlich waren, hätte es auch eines vergleichenden Blicks auf diejenigen bedurft, die sich den "Assocations" verweigerten, die dem patriotischen Druck Widerstand leisten oder eine neutrale Haltung einzunehmen versuchten.
Anmerkungen:
[1] Dazu die entsprechenden Kapitel im maßgeblichen Handbuch von David W. Conroy und Rebecca Starr: Companion to the American Revolution, hrsg. von Jack P. Greene und J.R. Pole, Malden, 2004, 216ff.
[2] Es ist erstaunlich, dass Wellenreuther als deutscher Amerikahistoriker die Arbeit von Marion Breunig: Die Amerikanische Revolution als Bürgerkrieg, Münster 1998 überhaupt nicht rezipiert hat, obwohl Breunig eine ähnliche Skepsis gegenüber der Bedeutung von "Ideen" im konkreten politischen Prozess an den Tag legt wie er selbst.
Philipp Gassert