Andreas Fahrmeir: Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven / London: Yale University Press 2007, vii + 299 S., ISBN 978-0-300-11848-3, USD 60,00
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Mit der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wurde nach Andreas Fahrmeir ein Konzept aus der Taufe gehoben, das bis heute von besonderer Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen ist: das Konzept der Staatsbürgerschaft (1). Es sorgt noch immer für politische Kontroversen und beschäftigt die akademische Forschung. Mittlerweile ist der Begriff "citizenship" diffundiert und das Konzept diversifiziert, so dass laut Fahrmeir von einer allgemeinen Bedeutung oder einem einheitlichen Verständnis nicht die Rede sein kann. Fahrmeir, Professor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main, wurde in Cambridge promoviert und war einige Zeit am Deutschen Historischen Institut London tätig. Er hat sich bereits intensiv mit der Stellung von Ausländern in der britischen und der deutschen Gesellschaft beschäftigt. [1] In seiner Studie möchte Fahrmeir die Geschichte des Staatsbürgerschaftskonzepts am Beispiel Britanniens, Frankreichs, Deutschlands und der USA nachzeichnen, um zu zeigen, "wie, wann, warum und in welchem Ausmaß" sich die "Staatsbürgerschaft" in modernen Staaten durchsetzte (2).
Überlegungen des britischen Philosophen T.H. Marshall zu rechtlichen, politischen und ökonomischen Aspekten der Staatsbürgerschaft aufgreifend, unterscheidet Fahrmeir zwischen formaler Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft in einem politischen Gebilde, politischer Staatsbürgerschaft als Teilhabe an politischer Gestaltung, wirtschaftlicher Staatsbürgerschaft im Sinne der Integration in den Arbeitsmarkt und sozialer Staatsbürgerschaft als Teilhabe am Wohlfahrtsstaat (2f.). Er hebt die vergleichende und internationale Perspektive hervor, weil der Prozess der Aushandlung von Staatsbürgerschaft stets sowohl eine nationale als auch eine internationale Dimension aufweise (7). Er gliedert seine Studie in sieben Kapitel. Zunächst stellt er das System der Ein- und Ausgrenzung im vorrevolutionären Europa (vor 1789) dar, wobei er gut 500 Jahre umreißt und dabei nur übergeordnete Entwicklungslinien darlegen kann (9-26). Es folgt ein Kapitel zur Revolutionsperiode, die für ihn 1775 in Nordamerika beginnt und mit der Niederlage Napoleons endet (27-55). Sie sei der "turning point" (27) der Geschichte der modernen Staatsbürgerschaft.
Im dritten Kapitel untersucht er die "liberale Ära" von 1815 bis etwa 1870, die er als Phase des "Experimentierens" mit Staatsbürgerschaftskonzepten bezeichnet (56-88). Für die anschließende Periode von den 1870er Jahren bis 1918 erkennt er im vierten Kapitel (89-123) eine "Ethnisierung" der Staatsbürgerschaftsvorstellungen, die von 1919 bis 1945 - beschrieben im fünften Kapitel (124-165) - in eine aktive und zum Teil radikale Bevölkerungspolitik mündete, die unter anderem durch Zwangmigration ungeheuren Ausmaßes und die Elimination von Minderheiten gekennzeichnet war. Im sechsten Kapitel beschreibt er die Überwindung des ethnisch begründeten Staatsbürgerverständnisses in der Nachkriegszeit von 1945 bis in die 1960er Jahre vor dem Hintergrund der Massenmigrationen, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der entstehenden Wohlfahrtsstaaten (166-201). Im siebten und letzten Kapitel beleuchtet Fahrmeir die Auswirkungen der Globalisierung auf das Konzept der Staatsbürgerschaft zwischen den 1970er Jahren und der Jahrtausendwende (202-227). Seine Studie schließt mit der Frage, ob das Staatsbürgerschaftskonzept sich im Niedergang befinde oder auch künftig von Bedeutung für Gesellschaften sein werde (228-232).
Fahrmeirs Studie bietet einen guten Überblick über die Geschichte der Staatsbürgerschaft in den vier Ländern. Seine Begrenzung auf Britannien, Frankreich, Deutschland und die USA ist nicht sachlogisch, aber auch kein Manko. Sie folgt der Kompetenz des Autors in Bezug auf diese Länder, wie er selbst feststellt (7). Allerdings gibt es mittlerweile interessante vergleichende Untersuchungen zur rechtlichen und sozialen Stellung von Minderheiten oder Immigranten in nord- oder osteuropäischen Ländern und den Versuchen, sie in Staatsbürger zu transformieren. [2] Positiv ist hervorzuheben, dass Fahrmeir sich nicht auf die Darlegung rechtlicher Rahmenbedingungen der Staatsbürgerschaften beschränkt, sondern auch die häufige Diskrepanz zwischen Rechtslage und ihrer Umsetzung herausarbeitet.
Zudem macht Fahrmeir mehrere interessante Beobachtungen. So haben beispielsweise die Sozialversicherungssysteme der Zeit vor 1914 nicht zu einer sozialen Staatsbürgerschaft geführt; in Preußen zahlten Ausländer dieselben Beiträge wie Inländer, ohne jedoch alle Maßnahmen in Anspruch nehmen zu können (106ff.). Den Gedanken eines deutschen Staatsbürgerschafts-Sonderwegs weist Fahrmeir zu Recht zurück und verweist auf zunehmende Restriktionen bei der Einbürgerung in den USA und Britannien nach 1945 sowie seit den 1980er Jahren, die beide Länder dazu brachten, vom absoluten ius soli abzurücken (202ff.). Bemerkenswert ist auch Fahrmeirs Beobachtung, dass die Staatsbürgerkonzepte des ius sanguinis und des ius soli offenbar voraussetzen, dass die Gesellschaften strukturell gleichbleiben. Sie übersehen, dass Menschen migrieren, sich Bevölkerungen mithin permanent verändern (7). Wie schwer es modernen Gesellschaften fällt, sich in Bezug auf die Staatsbürgerschaft hierauf einzustellen, haben insbesondere die deutschen Diskussionen zur Frage der Ein- bzw. Zuwanderung Ende der 1990er Jahre gezeigt. Dass aber die das ius soli zugrunde legenden Staatsbürgerkonzepte Frankreichs und Englands tatsächlich "erfolgreicher" (5) seien, wie Fahrmeir meint, um mit dem Phänomen der Masseneinwanderung umzugehen, kann mit Blick auf die gravierenden Integrationsprobleme gerade dieser beiden Länder bezweifelt werden. Außerdem werde, so Fahrmeir, in der Forschung die Korrelation von Staatsbürgerpflichten mit -rechten überbetont. Letztlich sei der "citizen soldier" viel weniger relevant für die Geschichte der Staatsbürgerschaft als der "citizen voter" (8).
Das Konzept der Staatsbürgerschaft hat sich mehrfach gewandelt. Seine rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte, die Fahrmeir herausgearbeitet hat, zeigen die Fluidität und Ambiguität dieses Konzepts, welches Ergebnis und Motor sozialen Wandels ist. Trotz fortschreitender Entstaatlichung, Globalisierung auf der einen und Regionalisierung auf der anderen Seite, ist die Staatsbürgerschaft nach Fahrmeir noch nicht obsolet, sondern weiterhin eine wichtige Grundlage für Rechte und Privilegien innerhalb von Gesellschaften (232). Fahrmeirs flüssig geschriebene historische Betrachtung ist auch mit Blick auf aktuelle Debatten zu Immigration und Integration erhellend.
Anmerkungen:
[1] Andreas Fahrmeir: Citizens and Aliens: Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789-1870, New York/ Oxford 2000.
[2] Vgl. Tagungsbericht Orientexpress mit Rückfahrschein. 03.04.2009-04.04.2009, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 01.08.2009,
Steffen Bruendel