Dorothea Nolde / Claudia Opitz (Hgg.): Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 289 S., ISBN 978-3-412-20100-5, EUR 44,90
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Die Herausgeberinnen setzen bei einer Lücke in der Kulturtransferforschung an, der Erforschung kultureller Transfers im Rahmen von Familiennetzwerken. Das Augenmerk liegt auf Familien, die über verschiedene Regionen oder Staaten verteilt waren. Transfer durch und mittels Familien ist der Transferforschung nicht unbekannt, schon in den Achtzigerjahren, also im Entstehungskontext der heutigen Kulturtransferforschung, wurde darauf aufmerksam gemacht.
Kulturelle Transfers sind ohne verschiedenste Netzwerke nicht denkbar. Dieser in den letzten Jahren immer häufiger eingesetzte Begriff, der dabei selten genauer definiert wird - so auch nicht in diesem Sammelband - trifft in der Tat auf transregional oder transnational verteilte Familien am ehesten zu, da die Familie als Grundorganisation des politischen Gemeinwesens ungleich mehr Aufgaben und Funktionen als gegenwärtig besaß, die zu den im engeren Wortsinn familiären Banden hinzukamen. Erforschbar, nicht nur in Bezug auf kulturelle Transfers, ist dies in der Frühen Neuzeit für Elitenfamilien, zu denen letztlich auch die im Band untersuchten Schweizer Soldunternehmer um 1700 (Nathalie Büsser) zu zählen sind. An Quellen, die breitere soziale Schichten erfassen lassen, würde es nicht fehlen; so weisen die Herausgeberinnen auch z.B. auf Gerichtsquellen hin, die einiges für die Kulturtransferforschung abwerfen können. Der zu besprechende Tagungsband ordnet sich allerdings nicht hier ein.
Nolde und Opitz nutzen den Ansatz, kulturelle Transfers durch Familiennetzwerke zu erforschen, um nochmals gegen eine schwerpunktmäßige Erforschung solcher Transfers zwischen nationalen Kulturen zu plädieren. Gleichwohl wirft der von ihnen eingeleitete Band genau diese Frage offenbar ungewollt positiv wieder auf: Die überwiegenden Beispiele betreffen die Verheiratung von Frauen an "ausländische" Höfe. Sieht man davon ab, dass mancher Aufsatz eher andeutet, dass in diesem Kontext Kulturtransferforschung aufgrund der Quellenlage machbar ist, so bestätigen die Ergebnisse zunächst einmal etwas, was wir sattsam wissen, nämlich einerseits die Hochkonjunktur italienischer Transfers im 16. Jahrhundert, die in bestimmten Feldern wie Musik etwa bis ins 18. Jahrhundert anhält, und andererseits die einsetzende Hochkonjunktur französischer kultureller Transfers nicht zuletzt in verschiedene reichszugehörige Regionen spätestens seit Ludwig XIV. Während im Falle italienischer Transfers zwar von italienischer Kultur, nicht aber von einem nationalen Raum zu sprechen ist, liegt die Sache im Frankreich Ludwigs XIV. durchaus anders: Dieses Frankreich unter diesem König war das erste europäische Land, das seine Kultur bewusst und mit dem Ziel kultureller Transfers als nationale Kultur inszenierte, französische somit zugleich als nationale Transfers kodierte. Dem entspricht der trotz der Rede von einer "France italienne" im 16. Jahrhundert geleistete relative Widerstand gegen italienische Kulturtransfers in jenem Jahrhundert, wie es u.a. Christiane Coester ausführt.
Das in anderen Zusammenhängen entwickelte Modell einer chronologischen Aufeinanderfolge kultureller Modelle, die jeweils den Hauptstrom kultureller Transfers bestimmten und durch begrenztere Modelle begleitet wurden, wird von mehreren Beiträgen bestätigt, ohne dass darauf Bezug genommen würde. Da mit dem Begriff der Nation und des Nationalen bezüglich der Frühen Neuzeit vorsichtig umzugehen ist, kann hier nur festgestellt werden, dass der Tagungsband, ohne es darauf anzulegen, der erwähnten Kontroverse neue Nahrung gibt und die teilweise in der Transferforschung erfolgte Akzentsetzung auf den Austausch zwischen protonationalen oder nationalen Kulturen in der Frühen Neuzeit als sinnvoll erscheinen lässt. Was die mikrogeschichtlichen Studien mindestens sehr deutlich zeigen, ist, dass kulturelle Transfers durch transregionale oder transnationale - die Herausgeberinnen sprechen neutral von "grenzüberschreitend" - Netzwerke auf der Grundlage von Familien oder anderer sozialer oder konfessioneller Gruppen sich nicht im Gegensatz, sozusagen als permanente Gegenthese, zur Erforschung kultureller Transfers im Kontext werdender nationaler Kulturen befinden.
Der Sammelband thematisiert unterschiedlichste Formen und Inhalte kultureller Transfers, wobei die Untersuchungen zu Transfers im höfischen Milieu aufgrund der reicheren Quellenlage, die die Zeiten vor und nach den eigentlichen Untersuchungsbeispielen einschließen, die überzeugendsten Ergebnisse liefern. Der Transfer kultureller Referenzen ohne einen intensiven Kommunikationskontext wäre ein eher absurder Gedanke. In verschiedenen Beiträgen wird exemplarisch "der" Brief als ein kulturelle Transfers nicht nur begleitendes, sondern beförderndes Medium untersucht. Da in mancher Beziehung Brief und Sprache dasselbe sind, gehört der Niederschlag kultureller Referenzen im Sprachgebrauch mit zu den aufschlussreichsten Untersuchungsfragen.
Was leistet der dreisprachige (deutsch, englisch, französisch) Band, zu dem außer den Herausgeberinnen (in der Reihenfolge der Beiträge) Daniel Schönpflug, Anuschka Tischer, Linda Maria Koldau, Christiane Coester, Gesa Stedman, Marie-Louise Pelus-Kaplan, Sven Externbrink, Margarete Zimmermann, Dominique Picco, Nathalie Büsser, Sophie Ruppel, Tobias Brandenberger, Elisabeth Hasse, Irmgard Schwanke sowie Carmen Fugger Artikel geliefert haben? Zum einen gibt er seit Längerem ausgetragenen Kontroversen neue Nahrung, zum anderen trägt er zur Vertiefung unseres Wissens um kulturelle Transfers vorrangig in Elitenmilieus bei, zum dritten schärft er unser Wissen um die Rolle von Frauen für kulturelle Transfers. Letzteres macht die Stärke des Bandes aus. Da Sammelbände, wenn sie auf Tagungen zurückgehen, kaum einen Syntheseanspruch erheben können, müssen die hier publizierten Forschungsbeispiele letztlich je für sich stehen. Es gibt allerdings keinen Grund, auf ein gutes Register zu verzichten, das den Wert eines Tagungsbandes für die Forschung wohl steigern würde.
Wolfgang Schmale