Michael Stolberg: Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 285 S., ISBN 978-3-412-20318-4, EUR 26,90
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Die Harnschau war bis weit ins 19. Jahrhundert eines der wichtigsten Diagnoseverfahren der Medizin. Gleichzeitig stand das Harnglas in der Ikonografie als charakteristisches Attribut für den Ärztestand. Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Harndiagnose, oder Uroskopie, von der jüngeren Medizinhistoriografie weitgehend außer Acht gelassen worden ist, sieht man von vereinzelten Arbeiten ab, die entweder ein wissenschafts- oder ein kunsthistorisches Interesse verfolgen. [1] "Die Harnschau" des Würzburger Medizinhistorikers Michael Stolberg schließt diese Forschungslücke mit Bravour. Durch die intelligente Verbindung von Patienten- und Wissenschaftsgeschichte hat der Autor neue Akzente gesetzt.
Stolbergs "Die Harnschau" firmiert zu Recht als Alltags- und Kulturgeschichte, denn Praktiken sowie die Patientensicht stehen im Mittelpunkt der Argumentation. Schlüssig und "von unten" vermag der Autor aufzuzeigen, "wie die lebensweltlich verankerten Anschauungen medizinischer Laien, über Marktmechanismen vermittelt, in entscheidendem Maße den medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs beeinflussen konnten" (11). Stolberg revidiert dabei eine zentrale These der jüngeren Medizingeschichte: und zwar dass die Arzt-Patienten-Beziehung sich um 1800, mit dem Aufkommen neuer objektivierender Diagnoseverfahren im Zuge der ärztlichen Professionalisierung, radikal gewandelt habe. Bereits die frühneuzeitliche Harnschau, an der ein Großteil der Bevölkerung im Gegensatz zu den meisten Ärzten bis ins 19. Jahrhundert festhielt, sei nämlich ein "objektives Diagnoseverfahren par excellence" (218) gewesen. Dass die Harnschau häufig zur Schwangerschaftsdiagnose diente, widerlege insbesondere Barbara Dudens These, wonach die subjektive weibliche Leiberfahrung vor 1800 dominiert habe. Praktisch sei die frühneuzeitliche Medizin deshalb keinesfalls narrativ und gesprächsdominiert gewesen. Dies habe sich erst im Verlauf des Untersuchungszeitraums (vom ausgehenden Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert) durchgesetzt, und zwar als Ergebnis ärztlicher Professionalisierungsinteressen zur Sicherung der ärztlichen Autorität und Vorherrschaft am Krankenbett.
Stolbergs "Harnschau" stützt sich auf ein breites Spektrum an Quellen. Dazu zählen, für die Ärztesicht: ärztliche Schriften, Harntraktate, Fallsammlungen, Polemiken gegen Nicht-Approbierte und, aus dem 19. Jahrhundert, medizinische Topografien. Die Patientensicht wird über Selbstzeugnisse, Autobiografien, Briefe und Verhörprotokolle, erschlossen. Als dritte Quellengattung dient die niederländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts, der ein eigenes Kapitel (Kapitel 4) gewidmet ist, weshalb das Buch 48 qualitativ hochwertige Farbabbildungen enthält.
"Die Harnschau" ist in sechs Abschnitte gegliedert. Seinem alltagshistorischen Anspruch entsprechend, beginnt das Buch konsequent mit der "Harnschau im Alltag" (Kapitel 1). Am Anfang steht dabei die Laien- oder Patientenerfahrung. Stolberg arbeitet in diesem Kapitel heraus, wie die Bevölkerungsmehrheit bis ins 19. Jahrhundert an der Harnschau (gemeinsam mit der Humoralpathologie) festhielt, ja darin den Universalschlüssel zur Diagnose aller möglichen Krankheiten, nicht nur des Urogenitaltraktes, sah. Indes meldeten immer mehr Ärzte ihre Zweifel an dieser Praxis an.
Die Laienperspektive greift Stolberg im dritten Kapitel des Buches, "Bedeutung und Funktion der Harnschau in der Laienwelt", nochmals auf. Für die Harndiagnose hätten, aus Sicht der Zeitgenossen, einmal deren relativ geringe Kosten, deren Anonymität und Objektivität gesprochen. Entscheidend seien jedoch die Behandlungserfolge gewesen, die die Evidenz der Harndiagnostik damals augenscheinlich bestätigt hätten, argumentiert Stolberg historisch. Placeboeffekt und remittierende Krankheitsverläufe (die gerade bei den damals vorherrschenden akuten Infektionskrankheiten wahrscheinlich gewesen sein dürften) führt der Autor plausibel als retrospektive Erklärung für die - aus heutiger Sicht erstaunlich anmutende - damalige Evidenz der Harnschau an. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass die Harnschau auf die landläufigen Begriffe und Konzepte der Humoralpathologie rekurrierte, deren hohe Leibnähe die Evidenz der Harndiagnose für die Laien zusätzlich untermauerte. Überzeugend interpretiert Stolberg die Harnschau deshalb als selbstbestätigendes Ritual, das den Kranken und ihren Angehörigen Sinn und Orientierung vermittelte.
Auch in "Enthüllungen: Die Harnschau in der frühneuzeitlichen Genremalerei" (Kapitel 4) geht es um die Patientenperspektive, allerdings in der gebildeten bürgerlichen Schicht, die diese Bilder malen ließ beziehungsweise kaufte. Um Geheimnis und Wahrheitssuche habe sich die Ikonografie der Harnschau gedreht, insbesondere wenn es um den Frauenköper ging, konstatiert Stolberg gender-sensibel.
Kapitel zwei und fünf des Buches sind der Ärzteperspektive gewidmet. In "Grundlagen der Harnschau" (Kapitel 2) erläutert Stolberg, welcher Logik die Harndiagnostik folgte und welche Schlussfolgerungen der geübte Harnschauer aus Konsistenz, Farbe und Beimengungen des Harns ziehen konnte. Aus Sicht der Zeitgenossen handelte es sich um eine theoretisch gut begründete, rational-naturphilosophischen Prinzipien folgende Methode.
Trotzdem stellten Ärzte das Verfahren zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert immer mehr in Frage, zeigt Stolberg im fünften Kapitel "Die ärztliche Abkehr von der Harnschau". Ein erster Einwand lautete, dass per Harnschau nicht alle Krankheiten diagnostiziert werden konnten. Ein anderer Einwand hieß, dass Krankheiten nicht allein aus dem Harn erkennbar seien, da die Harndiagnose ohne weitere Informationen (etwa zu Alter, Geschlecht, Temperament, Lebensweise oder Beschwerden des Patienten) unzuverlässig sei. Hinter dieser aufkommenden Skepsis sieht Stolberg Angst vor der "Gefährdung der ärztlichen Autorität" (172) am Werk: "In der breiten Öffentlichkeit immer noch als zentrales Element der ärztlichen Praxis begriffen, bedrohte die Harnschau nicht nur die Autorität des einzelnen Arztes, sondern die der Ärzteschaft insgesamt" (180). Als mögliche Gründe des drohenden Autoritätsverlustes nennt Stolberg zum einen die Gefahr des blamablen Fehlurteils und zum anderen (im Anschluss an Norbert Elias' Zivilisationstheorie) den Kontakt mit stinkenden Exkrementen. Ferner habe die in der Frühen Neuzeit aufstrebende Anatomie (wie die Harnschau) den privilegierten Zugang zum Körperinneren und damit die kollektive Autorität der Ärzte gesichert. Allenfalls in Form einer modernisierten chemischen oder mikroskopischen Urinanalyse fand das Verfahren im 19. Jahrhundert die Akzeptanz der Mediziner.
Insgesamt ist Stolbergs "Harnschau" ein argumentativ äußerst überzeugendes, prägnant formuliertes, rundum gelungenes Buch. Elegant demonstriert Stolberg, wie sich Patienten- und Wissenschaftsgeschichte - zwei Bereiche, die in der Forschungspraxis heute allzu oft wie Antagonismen behandelt werden - , gegenseitig befruchten können.
Anmerkung:
[1] Walter Wüthrich: Die Harnschau und ihr Verschwinden. Zürich 1967 (= Zürcher Medizingeschichtliche Abhandlungen; 42); Friedrich v. Zglinicki: Die Uroskopie in der bildenden Kunst. Darmstadt 1982; Thomas Schlich: Das Uringlas als Erkennungsmerkmal des gelehrten Arztes. Harndiagnostik und ärztlicher Stand im Mittelalter, in: Spektrum der Nephrologie 5 (1992), 5-9.
Susanne Hoffmann