Hubertus Seibert / Alois Schmid (Hgg.): München, Bayern und das Reich im 12. und 13. Jahrhundert. Lokale Befunde und überregionale Perspektiven (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte; Beiheft 29), München: C.H.Beck 2008, XVI + 463 S., ISBN 978-3-406-10670-5, EUR 42,00
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"Ich hab das so in der Schule gelernt und das lass' ich mir jetzt auf meine alten Tage nicht nehmen" verkündete der Münchener Oberbürgermeister Christian Ude auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 850. Münchener Stadtgeburtstag. Zweifel an der überkommenen Meistererzählung von der mittelalterlichen Gewalttat Herzog Heinrichs des Löwen wurden im Rahmen eines an ökonomischen und technologischen Zukunftsperspektiven ausgerichteten Festprogramms weithin ausgeblendet. Dass neben den durch das Referat für Arbeit und Wirtschaft koordinierten 'Leuchtturmveranstaltungen' überhaupt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Festanlass erfolgte, ist maßgeblich der Eigeninitiative der am vorliegenden Band beteiligten Fachvertreter zu verdanken. Er vereint die Vorträge eines im März 2008 abgehaltenen Kolloquiums, das die Gründungsphase Münchens bis ins 13. Jahrhundert hinein unter ausgewählten Leitperspektiven beleuchten und dessen Ergebnisse noch im Jubiläumsjahr einer stadtgeschichtlich interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen konnte.
Im Zentrum der interdisziplinären Annäherung steht zunächst die lokale Situation an der mittleren Isar und dem Siedlungsplatz München. Können im archäologischen Befund keine ausreichenden Beweise für präurbane Keimzellen gefunden werden, so vermag Christian Behrer dem unterirdischen Archiv der Stadt für die Zeit nach 1158 doch bemerkenswert klare Befunde zu entlocken: In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts lassen sich im Kernbereich des alten Marktortes mit dem alten Hof und dem Petersbergl zwei befestigte Ansitze nachweisen, die der "politisch zweigeteilten Situation" (16) der schriftlichen Überlieferung entsprechen. Der auf einen Ost-West-Transfer ausgerichteten, in seiner Binnenstruktur erstaunlich stabilen Straßenführung widmet sich der Beitrag Christine Rädingers. Bereits vor dem Brückenbau bot der Ort saisonal günstige Bedingungen für eine Isarüberquerung, jedoch bedurfte die Etablierung der Salzhandelsroute eines weiteren Ausbaus der Trassenführung insbesondere im Bereich des Gasteigs.
Das verkehrstopographisch günstige, für eine intensive Bodennutzung jedoch kaum geeignete Terrain über der westlichen Isarterrasse suchen die Beiträge von Gertrud Thoma, Richard Bauer, Lorenz Meier und Gottfried Mayr in das Gefüge personaler Bindungen und herrschaftlicher Interessen einzuordnen. Gemeinsam ist diesen Detailuntersuchungen die notwendige Abkehr von einer "modernen rechtspositivistischen" (351) Klärung der Streitfrage des Jahres 1158. Vielmehr suchen die Autoren die insgesamt disparaten Quellenzeugnisse zur Münchener Frühgeschichte unter jeweils neuer Perspektive zu ordnen und auf ein bestimmtes Zentrum hin zu verdichten. Dabei entstehen nahezu zwangsläufig teils komplementäre, teils konträre Deutungsangebote. So kann Gertrud Thoma aus der Sicht zeitgenössischer Zeugnisse die These dezidiert zurückweisen, "dass Freising das 'lokale dominium' über das Gelände des späteren München besessen habe" (77), während Richard Bauer eine "starke hoch- und spätmittelalterliche Präsenz des 1140 von Bischof Otto I. als Prämonstratenserstift neugegründeten Schäftlarns im unmittelbaren Umgriff Münchens" (121) plausibel machen möchte. Im Kontrast dazu sucht Gottfried Mayr die ältere These von den frühmittelalterlichen Wurzeln der Siedlung auf Wessobrunner Klostergut zu reaktivieren. Lorenz Maier rekonstruiert mit Blick auf die Anteile der Grafen von Wolfratshausen am Reichenhaller Salzhandel und der Präsenz ihrer Ministerialität im Münchener Kernraum eine erste Phase der Marktentwicklung vor 1158.
Die Problematik einer - wenngleich im Fall der Münchener Frühgeschichte vielfach unvermeidlichen - Rückprojektion späterer Entwicklungsstände demonstriert am Beispiel der Stadtrechtsentwicklung eindrücklich Hans-Georg Hermann. Der "Befund für die Methode der Rückbeziehung" bliebe für die Zeit vor der Rechtsverleihung durch Herzog Rudolf I. trotz vielfältiger Bemühungen der Forschung "überaus amorph" (154). Der Ertrag der sorgfältig quellengestützten Analysen liegt daher vielfach in der Zurückweisung älterer Forschungskonstrukte. Umgekehrt, so muss Ferdinand Kramer resümierend feststellen, kann trotz zahlreicher neuer Indizien auf ortsgeschichtlicher Betrachtungsebene "der unmittelbare Quellenbeweis nicht präzise" geführt werden (422). Das große Verdienst des Sammelbandes stellt demgegenüber die Erweiterung des auf den Münchener Raum beschränkten Fokus um aktuelle Forschungsperspektiven der Landes- und Reichsgeschichte dar.
Den Erkenntnisgewinn einer solchen raumübergreifenden Kontextualisierung vermag in überzeugender Weise Jürgen Dendorfer vor Augen zu führen. Seine Sicht auf den welfisch-babenbergischen Streit um Bayern zeichnet präzise die personalen Konstellationen und Konfliktlinien innerhalb des Herzogtums nach. Das westliche Oberbayern zwischen Isar und Lech rückt dabei ins Zentrum der handelnden Parteien: Valley, Dachau und Freising markieren die Eckpunkte eines Areals langwieriger militärischer Auseinandersetzungen, in deren Zentrum der spätere Markt München lag. Der reichspolitische Umbruch des Jahres 1152, der mit der Wahl Friedrich Barbarossas zu einem 'renversement des alliances' führte, vermochte die welfische Position in dieser Region entscheidend zu stärken und der Etablierung eines Stützpunktes an der mittleren Isar Vorschub zu leisten.
Ergänzend dazu kann Roman Deutinger zeigen, dass es sich bei der Augsburger Übereinkunft von 1158 "um eine Konfliktlösungsstrategie, die geradezu als besonderes Markenzeichen der ersten Regierungsjahre Friedrich Barbarossas gelten kann", handelte (128). Im Nachklang der Neuvergabe des bayerischen Herzogtums sollte die kaiserliche Urkunde den einvernehmlichen Ausgleich zwischen den einstigen Konfliktparteien garantieren. Im Gegensatz dazu repräsentiert das Diplom Friedrichs I. von 1180 das Resultat eines formellen Rechtsverfahrens politischer Natur. Unter veränderten politischen Konstellationen stellte es jedoch ebenso wie die Einigung von 1158 insofern keinen Akt der Rechtsbeugung zugunsten einer der Streitparteien dar, als "eine objektive Rechtslage, nach der man hätte urteilen können, nicht vorhanden" (139) und die hochmittelalterliche Rechtsfindung "stets relativ und von eingeschränkter Gültigkeit" (137) gewesen sei.
Die Dynamik der weiteren Stadtentwicklung betonen die Beiträge von Christof Paulus, Hubertus Seibert und Alois Schmid. Während ein Bezug der Wittelsbacher zum Marktort vor 1180 nicht festzustellen ist, kann Seibert die schrittweise Durchsetzung der herzoglichen Stadtherrschaft konzise in die herrschaftlichen Strukturverschiebungen nach Ausschaltung der regionalen Andechser Präsenz 1209/46 und unter Ausnutzung der Freisinger Krisensituation der 1220er Jahre einordnen. Als Ausgangspunkt und Bestandteil einer in drei Phasen verlaufenden herzoglichen Städtepolitik vermag Schmid dem Gründungsvorgang eine Langzeitperspektive zu verleihen. Dabei verlagerte sich der Zentralort der Herzogsherrschaft "in einem etwa ein dreiviertel Jahrhundert dauernden Prozess von Regensburg über Kehlheim und Landshut nach München" (392).
Wie wenig der Auf- und Ausbau der Münchener Marktsiedlung als isolierter Akt verstanden werden darf, veranschaulicht der abschließende Beitrag von Andrea Briechle. Im Kontext der welfischen Landesherrschaft in Sachsen, Bayern und der Rheinpfalz erscheint die Förderung urbaner Strukturen "vor allem als Ausschöpfung wirtschaftlicher Möglichkeiten, um fiskalische Grundlagen herzoglicher Politik auszubauen" (407). Eine bemerkenswerte Parallele zum Streit um die Märkte Föhring und München bietet die gleichfalls 1158 datierte Gründung des programmatisch 'Löwenstadt' getauften Stützpunktes im nördlichen Sachsen. Nachdem Graf Adolf II. von Holstein die herzoglichen Einkünfte durch die Errichtung des Marktortes Lübeck sowie einer Saline bei Oldesloe geschmälert hatte, etablierte Heinrich der Löwe hier geradezu eine 'Gegenstadt'. Leider verzichtet Briechle an dieser Stelle auf die dem Herzog unmittelbar in den Mund gelegte Begründung: Heinrich habe zunächst vom Grafen einen Anteil an Stadt und Salzeinkünften gefordert, "denn wir können es nicht ertragen, dass wegen fremden Vorteils unser väterliches Erbe in Verfall komme". [1]
Jenseits der Berufung auf lokale Besitzrechte wird darin eine raumübergreifende Konzeption dynastisch-herzoglicher Gerechtsame erkennbar. Erst der Blick auf die fernab der Isar gelegenen Situation an der unteren Trave vermag es, die bei der Etablierung des 'forum Munichen' maßgeblichen Motive in konkrete Worte zu fassen. Das auf die Kombination lokaler Befunde und überregionaler Perspektiven ausgerichtete Konzept der Herausgeber beweist hier einmal mehr sein richtungsweisendes Potential. Der Band stellt auf dieser Basis auch in methodischer Hinsicht ein würdiges Geburtstagsgeschenk für die Münchener 'Weltstadt mit Herz' dar. Die durch ein Register der Orts- und Personennamen und Sachbegriffe umfassend erschlossenen Beiträge werden zweifellos auch außerhalb der bayerischen Landeshauptstadt reges Interesse finden.
Anmerkung:
[1] Bernhard Schmeidler (Hg.): Helmolds Slavenchronik (= MGH SS rer. Germ. [; 32]), Leipzig 1937, lib. I, cap. 76, 145.
Jan Keupp