Rezension über:

Frank Büttner / Markus Friedrich / Helmut Zedelmaier (Hgg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit (= Pluralisierung & Autorität; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003, 368 S., ISBN 978-3-8258-7164-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Franz M. Eybl
Institut für Germanistik, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Franz M. Eybl: Rezension von: Frank Büttner / Markus Friedrich / Helmut Zedelmaier (Hgg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/4354.html


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Frank Büttner / Markus Friedrich / Helmut Zedelmaier (Hgg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen

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Verspätet angezeigt wird der zweite Band der mittlerweile erfolgreich etablierten wissenschaftlichen Buchreihe aus dem Münchener Sonderforschungsbereich 573 "Pluralisierung und Autorität". Die Beiträge, 2002 an einer Wolfenbütteler Konferenz diskutiert, haben nichts an Aktualität verloren. Sie sind in drei Gruppen angeordnet, die als "Ordnungen" die Systematiken der Wissensorganisation ins Auge fassen, mit "Zirkulation" historische wie synchrone Transfers beschreiben und unter dem Begriff "Visualisierungen" Veranschaulichungsmodi und ihre medialen Bedingungen zusammenstellen wollen.

Mit den "Ordnungen" setzt Jan-Dirk Müller: "Prosaroman und Enzyklopädie" (15-31) ein. Er untersucht bei Gesner, Vives und Possevino die kategorialen Zuschreibungsschwierigkeiten einer nicht kanonisierten Gattung in einem dafür nicht gerüsteten Klassifikationssystem, das mit den Kriterien Thematik, Darstellungsweise, Wahrheitsgehalt oder Nutzen versus Schaden arbeitet; der Jesuit Possevino darüber hinaus mit Rechtgläubigkeit.

Martin Schierbaum: "System versus Intention - Reichweitenprobleme theoretischer Modelle in Antonio Possevinos Bibliotheca Selecta am Beispiel von Historica und Poetica" (33-52) analysiert dessen bibliografische Auswahlkriterien, die eine eigenständige theologische Intention jenseits methodischer Konsistenz zeigen. Die abschließend aufgebotene Antithese von Realismus und Zeichentheorie scheitert nicht nur am hermeneutischen Anachronismus, sondern vor allem an der Ausblendung der historisch umkämpften Hermeneutik zwischen literalem ("realistischem") und allegorisch-anagogisch-moralischem Verständnis.

Roland Schmidt-Riese: "Ordnung nach Babylon. Frühneuzeitliche Spracheninventare in Frankreich und 'Deutschland'" (53-81) präpariert die autoritative biblische Grundlage der Sprachherkunft (Gen 2,20), Sprachverwirrung (Gen 11) und Sprachverbreitung (Gen 10) als theoretische Matrix früher Sprachforschung. Die Untersuchung entsprechender Sprachenkataloge bei Bovelles, Postel, Bibliander, Gesner, Megiser, Scaliger und schließlich Duret erbringt differenzierte Beobachtungen und Einsichten zur klassifikatorischen Funktionsweise.

Markus Friedrich untersucht in seinem Beitrag "Chorographica als Wissenskompilationen" (83-110) die Erhebungs- und Darstellungsprobleme der Gattung Landesbeschreibung, die sich den Problemen des historischen Wandels und der Partikularität des Wissens ausgesetzt sieht, was durch Detailtreue, Augenschein und Kooperation behoben werden soll. Darstellung ist Leserlenkung, denn "Abbildungsmodi schaffen Handlungsmöglichkeiten" (100), was an der Kategorie der Maßstäblichkeit gezeigt wird. Gerade bei diesem Beitrag beeindrucken Umfang und Internationalität der aufgearbeiteten Forschung.

Ulrich Johannes Schneider: "Bücher und Bewegung" (111-127) untersucht die grafischen Darstellungen der Herzog August Bibliothek als Regie des Raumes. In sorgsamer und aufschlussreicher Bildlektüre der Merian-Stiche erscheint die dargestellte Bibliothek als faszinierender Raum der Buch-Praktiken zwischen System, Aufstellung, Beschriftung und Benützung.

Den Abschnitt "Zirkulation" eröffnet Gilbert Heß: "Fundamente fürstlicher Tugend. Zum Stellenwert der Sentenz im Rahmen der voruniversitären Ausbildung Herzog Augusts" (131-173), der wegen üppiger Illustrationen umfangreichste Beitrag. Er analysiert am Quellenmaterial Wolfenbüttels die Exzerpierpraxis des Zöglings, der im Rahmen der Fürstenerziehung die "Vermittlung und Einübung eines additiv zusammengesetzten, auf historischen Exempla beruhenden Tugendkanons" (137) in Gestalt von exzerpierten Sentenzen erfährt. Sehr präzise zeigt diese gründliche und wohlinformierte Analyse die Verschriftlichungs- und Neuordnungsvorgänge zwischen Quellenlektüre und Kollektaneenheft.

Helmut Zedelmaier: "Karriere eines Buches: Polydorus Vergilius' De inventoribus rerum" (175-203) untersucht die mit ca. 100 Ausgaben bis 1700 weitverbreitete Kompilation von den Ursprüngen kultureller Praktiken. Das Werk thematisierte die kulturelle Tradition im historisch kritischen Moment, als diese in der "Debatte um das Gedächtnis der Kultur und die wahre christliche Religion" (191) auf den Prüfstand der Konfessionen geriet. Nach 1550 aber verwandelte es sich paratextuell vom gelehrten Kompendium "zu vielgestaltigen Büchern für ein 'vermischtes' Publikum" (187), wobei insbesondere die Register neue enzyklopädische Verwendungsweisen stimulieren.

Sabine Vogel: "Büchervielfalt: Kompendien in der Lyoner Buchproduktion des 16. Jahrhunderts" (205-219) bietet einen Querschnitt durch eine lokale Buchproduktion, der in (notgedrungen oberflächlichen) Beschreibungen einzelner Werke verharrt, aber dennoch einen Eindruck vom Rang der Gattung gibt. Warum die geläufigen humanistischen noms de plume Ravisius Textor und Lycosthenes nationalsprachlich aufgelöst werden, bleibt unverständlich.

Die beeindruckende Abhandlung von Robert Folger: "Ein Autor ohne Autorität(en): Fray Bernardino de Sahagún (1499-1590) und seine Enzyklopädie der Kultur der Nahuas" (221-242) untersucht die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der als Mischung aus Wörterbuch, Länderbeschreibung und Anthropologie angelegten Kulturbeschreibung. Wie sonst kaum im Band wird hier die Spannung zwischen Autorität und Pluralisierung hermeneutisch fruchtbar: Die Universalgeschichte der Fremdkultur wird auf das enzyklopädische Modell des Bartholomäus Anglicus bezogen, in den chiliastischen Horizonten des 16. Jahrhunderts situiert und auch in seiner Zweckbestimmung als sprachliche und sachliche Missionierungshilfe analysiert.

Die "Visualisierungen" führen ins Reich der Bilder in Sprache und Illustration. Louis van Delft: "Theatrum Mundi: L'Encyclopédisme des Moralistes" (245-267) erarbeitet in großem Bogen die Analogien und Differenzen zwischen der Theaterallegorie, deren Figur der Kreis ist, und den kompilatorischen Serien von Ständen, Professionen oder Narreteien, die den homo viator auf einem Weg figurieren. Die Metapher des Theaters etwa in Camillos Idea del theatro verleiht dem Gedächtnis einen zirkelförmig abschreitbaren, enzyklopädischen Ort, die Metapher des unumkehrbaren Lebensweges dagegen ist die Raumvorstellung des Moralisten. Die Erscheinungsformen des Enzyklopädischen und Kompilatorischen lassen sich mithilfe dieser Vorstellungs- und Darstellungstypen genauer verorten - bis hin zu Montaignes Sammlung von Essais und ihrer verborgenen Zirkelstruktur (259).

Frank Büttner: "Die Illustrationen der Margarita Philosophica des Gregor Reisch" (269-299), auch hier sachgemäß reich bebildert, versucht mittels des Funktionskriteriums am konkreten Beispiel eine Typologie zu erstellen. Doch werden die ad hoc gebildeten Begriffe wie "ostensive", "explikative", "narrative" oder "demonstrative" Illustration an keinerlei zeichen-, literatur- oder sprachtheoretische Modelle rückgebunden und verharren in hoher Beliebigkeit. Aus den Forschungen zur Buchillustration wurde ausreichend geschöpft, doch wäre wohl auf Flugblatt-, Druckgrafik- und vor allem Emblematikforschung zurückzugreifen, um avanciertere Reflexionen zur frühneuzeitlichen Bild-Text-Relation einzubringen.

Nur das Untersuchungskorpus passt im Aufsatz von Sabine Fastert: "Der Autor im Bild. Das graphische Autorenporträt in gedruckten Enzyklopädien des 16. Jahrhunderts" (301-323) zum Bandthema. Zum humanistischen Autorenporträt haben Vorarbeiten (etwa Lisa Jardine zu Erasmus von Rotterdam) schon Wesentliches erhoben. Allerdings kann die Veranschaulichung von Autorität durch "dialogische" Bilder mit mehreren Autoren ein interessantes Charakteristikum der Kompilationsliteratur zeigen (etwa in der Erstausgabe von Nani Mirabellis Polyanthea).

Ulrich Pfisterer: "Weisen der Welterzeugung. Jacopo Zucchis römischer Götterhimmel als enzyklopädisches Gedächtnistheater" (325-359) schlägt eine neue Lektüre der Galerie des Palazzo Ruccelai in Rom als "begehbare Enzyklopädie" vor. Pfisterer untersucht die Spannung zwischen der (unmittelbar nach Freskierung Ende der 1580er-Jahre gefertigten) Programmbeschreibung durch den pictor doctus, die die allegorische Evidenz herunterspielt, und der tatsächlichen Komplexität der Darstellung. Während Zucchis Götter- und Planetenzyklus als umfassendes kosmologisches Gedächtnistheater gemalt war, musste dessen Beschreibung den Verweisreichtum vor der kirchlichen Autorität abblenden.

Dem skizzierten wissenschaftlichen Reichtum stehen Mängel gegenüber. Die Technik des wissenschaftlichen Heimspiels (von den Seite 30 f. aufgelisteten 16 Forschungsarbeiten hat der Autor exakt die Hälfte selbst verfasst) oder den Stil des magistralen pluralis maiestatis (impressiv Seite 36) mag man leichthin verschmerzen. Ärgerlicher ist die geradezu dürftige Endkorrektur. Ein "Aparatus" (37 Anm. 22) hätte ebenso auffallen müssen wie ein "memotechnisches Bild" (280), der Enzyklopädist "d'Alambert" (283) oder die "Akkummulation" (84). Werner Welzig hieß nie Wolfgang (52), und "Roberston" (227 Anm. 41) wohl auch nicht so. Am bedauerlichsten aber ist das Fehlen von Registern. Die zahlreichen sachlichen und personellen Verbindungen, von denen die Aufsatztitel nichts verraten, liegen brach, über Camillo, Gesner oder Possevino ist an mehreren Stellen Interessantes zu erfahren, und so kann auch Jean Tixier mit Ravisius Textor nicht zusammengeführt werden. Einen Index Nominum und einen Index Rerum hat die Reihe zu ihrem Vorteil mittlerweile dazugewonnen.

Insgesamt aber liegt ein gelungener, lesenswerter und (in den genannten Grenzen) verlässlicher Band vor, der unser Wissen um das Wissen der Frühen Neuzeit profund erweitert.

Franz M. Eybl