Friedrich Lenger: Stadt Geschichten. Deutschland, Europa und die USA seit 1800, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 333 S., ISBN 978-3-631-58855-0, EUR 48,00
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Städte sind überaus wichtig - und doch ist ihre jüngere Geschichte wenig erforscht und wirft daher noch viele ungelöste Fragen auf. So könnte man die These des vorliegenden Bandes beschreiben, der auf einer Ebene gedruckte, un- und anders gedruckte Aufsätze Friedrich Lengers zu einer beinahe-Monographie über 'westliche' Städte vor allem im 19. Jahrhundert verbindet, auf einer anderen Ebene skizziert, wie ein spätneuzeitliches Pendant der reichen Tradition der Stadtgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aussehen könnte. Wenn auch die 'atlantische' Moderne (Deutschland, Westeuropa, USA) im Mittelpunkt der empirischen Betrachtung steht, so zielt der Band methodisch auf Fragen, welche die urbane Moderne insgesamt betreffen. Die seit den 1980er Jahren verfassten Beiträge sind auf vier Abschnitte verteilt, die sich mit "Bevölkerung und Wirtschaft", "Politik und Verwaltung", "Kultur und Gesellschaft" sowie - so könnte man sagen - Zukunftsperspektiven beschäftigen - also mit allen zentralen Aspekten der Stadtgeschichte.
Es ist vor diesem Frage- und Themenhorizont konsequent, dass Lengers Band mit der Definitions-Problematik beginnt, indem er diskutiert, was nach dem Abriss von Stadtmauern und der Abschaffung städtischer Sonderrechte einerseits, der dramatischen Verbesserung der Transport- und Kommunikationswege andererseits noch die Grundlage einer Differenzierung zwischen Stadt und Land sein könnte, vor allem angesichts zahlreicher Übergangsphänomene wie Vor- oder Parkstädte und Pendlerdörfer. Die Antwort ist der Verweis auf eine Forschungslücke: Angesichts der kursorischen Beschäftigung der modernen Historiographie mit der Stadt als Phänomen wissen wir über die unterschiedlichen Funktionen von Stadt und Land, aber auch über die Mentalitäten der Bewohner von Stadt, Land und Zwischenwelten in der Moderne noch überraschend wenig.
Die übrigen Aufsätze in diesem Abschnitt nähern sich diesen Fragen historisch an, indem sie allgemein sowie im Detail an Beispielen wie Wuppertal und Erlangen aufzeigen, wie komplex die Dynamiken waren, die im 19. Jahrhundert Städte zu Orten der Konsumption, der industriellen Produktion oder der politischen Entscheidungsfindung werden ließen, und welch vielfältige Funktionen Städte erfüllen konnten.
Der zweite Teil ist städtischer Politik im 19. Jahrhundert gewidmet. Hier setzt Lenger dem Bild einer immer wieder auf 'objektive' Probleme treffenden und diese systematisch sowie konsensuell lösenden, unideologischen Stadtverwaltung die Notwendigkeit entgegen, nach den politischen Debatten und sozialen Spannungen zu suchen, die sich hinter dem Bild einer problemlösungsorientierten Technokratie verbargen. Dabei geht es ihm um Bruchlinien innerhalb der Vermögens-Oligarchie, welche zumal im 19. Jahrhundert die Politik deutscher Städte bestimmte, und um die Wahrnehmung dieser Politik von außen und unten, aus der sich ein Protestpotential ergab, das die Handlungsfreiheit der Oligarchien begrenzte und sie zwang, über die sozialen Folgen ihrer Problemlösungsstrategien nachzudenken. Ein deutsch-amerikanischer Vergleich zwischen der Politik liberaler deutscher Stadtverwaltungen mit der lokaler "Bosse" in US-Städten macht den Nutzen einer internationalen Perspektive eindrücklich deutlich.
Kultur ist durch eine Abhandlung zur Großstadtdiagnose und -Kritik im 19. Jahrhundert am Beispiel der Debatten über "Großstadtmenschen" sowie eine sehr anregende Vignette zum Verhältnis zwischen Großstadt, Detektiv und Historiker repräsentiert.
Der letzte Abschnitt projiziert die bisher aufgeworfenen Fragen auf den noch unbefriedigenden Forschungsstand zur Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts. Was sind die "ökonomischen" Funktionen moderner Städte, und was treibt gegenwärtig deren Wachstum weiter an? Kann man überhaupt noch von städtischen Eigenarten sprechen, und - wenn ja - wo genau verlaufen im "urban sprawl" die Grenzen zwischen Stadt und Land? Was bedeutet das für städtische Binnen- und Zukunftsperspektiven? Und - vielleicht die intensivste Provokation und zugleich die überraschendste Verbindung zwischen dem durch den Krimi eingeführten düsteren Seite der Großstadt und allgemeiner Geschichte - wie lassen sich spezifisch städtische Gewalterfahrungen, Gewaltformen und Gewalttraditionen in eine Geschichte des gewaltsamen 20. Jahrhunderts einbinden?
Es handelt sich mithin um einen Band, der zwischen einem (Forschungs-)Überblick und Forschungsprogramm angesiedelt ist und aus vielerlei Perspektiven zur anregenden und spannenden Lektüre einlädt. Auch wenn man vielleicht den einen oder anderen Aufsatz schon kennt, so bieten nicht nur die neuen Beiträge, sondern auch die Gesamtanlage neue und überraschende Perspektiven. Zugleich eignet sich der Band hervorragend als Reader für stadthistorische Seminare. Warum die Preispolitik des Verlages, der sich mit der Produktion zudem leider keine besondere Mühe gegeben hat, dieser Nutzung eher im Wege steht, erschließt sich leider nicht.
Andreas Fahrmeir