Ralph Köhnen: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, München: Wilhelm Fink 2009, 603 S., ISBN 978-3-7705-4672-5, EUR 78,00
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In der letzten Dekade sind zahlreiche Monografien, Sammelbände und Zeitschriftenaufsätze erschienen, die sich mit Fragen der Geschichte des Sehens interdisziplinär auseinandersetzen. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl die okularen Praktiken des Sehens als auch die optischen Geräte und ihre Auswirkungen auf die Naturwissenschaften, Künste, Kultur und Gesellschaft. Fundierte Studien zu diesem Themenbereich wurden vor allem in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte veröffentlicht. Hingewiesen sei exemplarisch auf Christoph Hoffmanns 2006 edierte Untersuchung der Sinnesapparate des 19. Jahrhunderts. Ferner wurden historische Sehmodelle in Sammelbänden examiniert, wie beispielsweise in der 2008 erschienenen Publikation "Modernisierung des Sehens" von Matthias Bruhn und Kai Uwe Hemken, wo Jonathan Crarys Referenzwerk "Techniques of the Observer" kritisch weitergeführt wird, sowie in dem im gleichen Jahr von Werner Busch herausgegebenen Buch "Verfeinertes Sehen", das auf die Farbenlehre des 18. und 19. Jahrhunderts fokussiert. Die genannten Publikationen verbindet ein dezidiertes Interesse an den vielfältigen historischen und konzeptuellen Voraussetzungen des Wandels der Sehweisen.
Die zu besprechende Publikation Ralph Köhnens gehört in diese Sparte der fachübergreifenden Erforschung der Geschichte des Sehens. Bei seinem Buch "Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens" handelt es sich um eine 2006 an der Ruhr-Universität in Bochum angenommene Habilitationsschrift. Ziel des Autors ist die Abfassung einer "Historiographie des Auges". In zwanzig Kapiteln werden einzelne Etappen der Geschichte des Sehens aus der Medizin, physiologischen Optik, Literatur, Malerei und Fotografie sowie dem Theater und Film herausgegriffen. Chronologisch gegliedert, erstreckt sich der historische Rahmen der Arbeit von den optischen Wissenschaften der Antike und des Mittelalters, über Petracas Landschaftsschilderungen, der Zentralperspektive und Optik der Renaissance, Galileis Fernrohrkonstruktion, dem Farbensystem Newtons bis hin zur Raumauffassung der Aufklärung, der visuellen Wahrnehmung in der Malerei um 1900 und Heiner Müllers Dramenpoetik Ende des letzten Säkulums. Gemäß seinem Forschungsprogramm untersucht Köhnen die einzelnen Themengebiete anhand folgender Kriterien: 1. den "physiologischen Grundbegriffen des Auges bzw. des Sehvorgangs", 2. den "ästhetischen Zeugnissen der Malerei und Literatur" sowie 3. dem "technischen Wissen". (14-15, Hervorhebungen von Köhnen)
Wie bereits aus dem Untertitel hervorgeht, erschließt der Verfasser die umfangreiche Zeitspanne methodisch mit Hilfe mediologischer Gesichtspunkte. Köhnen geht davon aus, dass das Sehen "sich immer unter bestimmten Bedingungen, unter Vorannahmen und Einstellungen" vollzieht. (12) Für ihn ist Sehen kein "einfaches, unschuldiges, immer gleiches Geschehen, sondern eine elementare Anpassungsleistung der Wahrnehmung, eine kulturelle Handlung und eine erlernbare Technik". (14) Voraussetzungen für das Sehen sind nach Köhnen philosophische, literarische und künstlerische Aspekte, in denen technische Medien wie beispielsweise Lesesteine, Brillen, Fernrohre, Mikroskope, Prismen, Kaleidoskope und gemalte Panoramen eine Sonderstellung einnehmen. Ihre historische Bedeutung sieht er darin, dass entsprechende optische Instrumente neue Weltsichten generierten, aber auch Krisen hervorriefen. Köhnens Untersuchungsansatz folgt einer bestimmten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsrichtung der Medienästhetik. Grundlegend dafür sind Friedrich Kittlers Darstellungen der Medien und seine Überlegungen über die Funktionen des Speicherns, Übertragens, Verarbeitens und Generierens. Die daraus abgeleitete Medientheorie, der sich Köhnen anschließt, verknüpft psychoanalytische und semiotische Aspekte, indem sie von einer Dominanz des Signifikanten ausgeht, der im Kontext technischer Medien das Signifikat konstituiert. In diesem Denkmodell wird die Materialität der Medienträger durch die von den "Aufschreibesystemen" generierten Daten und die vom Subjekt konstruierten Inhalte aufgelöst. Auch für Köhnen steht außer Zweifel, dass das Sehen von semiotischen Ordnungen vorgeprägt ist, dass jenseits der Zeichen weder die visuelle Welt noch ein Sehvorgang beschrieben werden kann. Ausgehend von dieser "Kulturalität des Visus, als der Vorformulierung des Sehens in verschiedenen Konzepten" (39) eruiert er, in welcher Weise sich Zeichen auf Objekte beziehen und dieselben konstituieren.
Den selbst gewählten Forschungsansatz führt Köhnen bei der Behandlung der einzelnen Untersuchungsgegenstände konsequent durch. Es gehört zu den Vorzügen seiner Arbeit, dass der Lesende in jedem Kapitel sogleich mit themenbezogenen Textpassagen der Protagonisten, historischen Dokumenten und zeitgenössischen optischen Medien vertraut gemacht wird. Ikonische und linguistische Wenden, physiologische und psychologische Konzepte, Erfahrungsmuster und Begriffe, Reflexionen des optischen Wissens sowie die dem jeweiligen Wissen zugrunde liegende Sprachcharakteristik und vieles mehr werden ausführlichen Analysen unterzogen. Gleichwohl hätte in einigen Kapiteln eine schärfe Fokussierung auf das mediengebundene Sehen selbst erfolgen können. Beispielsweise wäre im 13. Kapitel über Goethes Farbenlehre eine stärkere Ausrichtung auf Goethes Einsatz des Prismas wünschenswert gewesen. Zwar kommt Köhnen zu interessanten Beobachtungen, wie etwa Goethes Verlegung des Labors in die unmittelbare Natur (338). Aber der Umstand, dass Goethe verschiedene Prismentypen besaß und den Lesenden zur Herstellung eines großen Wasserprimas aufforderte, wird ebenso wenig angesprochen, wie die aus Goethes unterschiedlicher Handhabung der durchsichtigen Medien resultierenden inhaltlichen und nicht zuletzt auch poetologischen Implikationen. So bleibt die Behandlung dieses Themas zu sehr Goethes allgemein bekannter Opposition gegenüber Newton verhaftet. Auch in einigen anderen Kapiteln hätte eine detailliertere Ausarbeitung spezifischer Sehpraktiken und optischer Techniken die Prägnanz der Untersuchungsergebnisse begünstigt. Im Kapitel "Psychophysik/1900" etwa wären die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Grundauffassungen der Künstler und den erkenntnistheoretischen Positionen der Naturwissenschaftler durch eine schärfere Herausschälung der Eigenheiten künstlerischer Sehmodi anschaulicher hervorgetreten (vgl. 429, 434, 440). Die akkurate Freilegung der Singularität des optischen Wissens der im Ganzen sehr gut ausgewählten Fallbeispiele tritt nicht immer pointiert genug hervor.
Trotz dieser Forderung nach einer stärkeren historischen Differenzierung, die letztlich aufgrund des epochenübergreifenden Zeitrahmens kaum zu leisten ist, muss gesagt werden, dass Köhnens Arbeit eine überaus aufschlussreiche Gesamtschau der geschichtlichen und inhaltlichen Diversität des Sehens liefert. Ihre literatur- und medienwissenschaftliche Ausrichtung stellt eine erhebliche Bereicherung des bislang von der jüngeren Wissenschaftsgeschichte, Kunst- und Bildwissenschaft dominierten Forschungsgebiets dar. Ferner offenbart Köhnens punktuelle Belichtung einzelner Abschnitte der Geschichte des Sehens unter methodisch kongruenten Kriterien homogene Einsichten in die Parallelen und Differenzen der jeweiligen historischen Formationen. Hierin gründet sich eine der Stärken des vorliegenden Buches, dessen Konsultation künftigen Untersuchungen der Geschichte des Sehens in jedem Fall empfohlen werden muss.
Robin Rehm