Rezension über:

Claudia Garnier: Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, IX + 455 S., ISBN 978-3-534-21956-8, EUR 79,90
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Rezension von:
Robert Gramsch
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Robert Gramsch: Rezension von: Claudia Garnier: Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/14992.html


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Claudia Garnier: Die Kultur der Bitte

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Ein Kaiser beugt vor einem Herzog das Knie. Welchem Mediävisten / welcher Mediävistin steht nicht bei diesem Satz sofort das Treffen von Chiavenna vor Augen? Ein Ereignis, von dem wir freilich nicht einmal wissen, ob es überhaupt stattgefunden hat, ob es nicht ein "Implantat in das kulturelle Gedächtnis" (Johannes Fried) ist - erfunden, um den Sturz Heinrichs des Löwen zu erklären. War aber die (behauptete) kaiserliche Kniebeugung wirklich eine solche Ungeheuerlichkeit? Kann nicht das, was wie eine skandalöse Umkehr der bestehenden Ordnung aussieht, gängige Scheidemünze in politischen Entscheidungsprozessen des Mittelalters gewesen sein? Vielleicht durfte Friedrich Barbarossa ja gerade auch auf diese Weise seinem Wunsch, Waffenhilfe zu erlangen, Ausdruck verleihen?

Claudia Garnier entfaltet in ihrer Habilitationsschrift ein umfassendes Panorama von kommunikativen Situationen im Mittelalter, in denen der Gestus des Bittens eingesetzt wurde, um (im weitesten Sinne) politische Ziele zu erreichen. Programmatisch ist schon der Titel ihres Buches: Wenn nach modernem Staatsverständnis Befehl und (potentieller) Zwang zum einen, klare rechtliche Ansprüche zum anderen das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Beherrschten bestimmen, so stellt das Postulat einer mittelalterspezifischen politischen "Kultur der Bitte" eine Variation des Themas der prinzipiellen Andersartigkeit mittelalterlicher Staatlichkeit dar. Unter den Bedingungen der "konsensualen Herrschaft" (Bernd Schneidmüller) sind "weiche" Kommunikationsformen wie die Bitte einfach die angemesseneren, baut doch jede offene Machtdemonstration, jedes strenge Beharren auf Rechtsnormen Barrieren auf, die Konsens be- oder verhindern.

In einer relativ knappen Einführung (1-15) entwickelt Garnier zunächst die theoretischen Grundlagen ihrer Arbeit. Die Definition der Bitte als einem "kommunikativen Tauschgeschäft" erweist sich für ihren Ansatz als bestimmend (4ff.). Ähnlich wie ein Geschenk "evoziert eine Bitte zunächst Freiwilligkeit", doch steht es dem Beschenkten / Gebetenen in der Regel keineswegs frei, ob er auf diesen "Initialgestus" mit einer Gegengabe reagiert oder nicht: Die Zurückweisung beziehungsweise Nichterwiderung der Gabe unterbricht die angeknüpfte Beziehung, was für das zukünftige Verhältnis beider Parteien nichts Gutes erwarten lässt. Da der Beschenkte / Gebetene diese Konsequenz seiner Verweigerung antizipiert, wird er ein Eingehen auf die angestrebte Tauschbeziehung zumindest in ernsthafte Erwägung ziehen müssen. Die symbolische Währung der Bitte wird dabei in ihrem Wert wesentlich vom sozialen Statusgefälle zwischen Bittendem und Gebetenem bestimmt, und zwar nicht nur aufgrund des jeweiligen "Drohpotentials" im Falle der Bittverweigerung, sondern auch deshalb, weil das Bitten immer zugleich ein Element der Selbsterniedrigung beinhaltet, für die gerade der hochgestellte Bittsteller schon einiges "verlangen" kann.

Das Vorgehen Garniers, den Einsatz von Bittgesten in der politischen Sphäre über ein ganzes Jahrtausend fränkisch-deutscher Geschichte hinweg zu untersuchen (wobei die Quellenproblematik auf Seite 15 nur gestreift wird), ist sinnvoll und notwendig. Nur über eine Kontextualisierung der zahlreichen dargestellten Einzelfälle lässt sich die spezifische Funktion und Wirkungsweise des Instruments der Bitte entschlüsseln und verallgemeinern. Freilich liegt hier auch die Ursache für eine gewisse Langatmigkeit der Studie, in welcher Umfang der Ereignisschilderungen und analytischer Ertrag nicht immer im besten Verhältnis stehen. Doch kann Garnier die Semantik der Bittgesten und das darin zum Ausdruck kommende, zuweilen recht raffinierte Taktieren der Beteiligten (etwa 39-43, 70-73) durchaus anschaulich machen. Insgesamt liefert sie so eine erhellende, zeitliche Entwicklungen sichtbar machende Gesamtschau auf ein facettenreiches Thema.

Dabei richtet Garnier den Blick zum einen auf die Frage, wie der Herrscher die Bitten von Untergebenen aufzunehmen hatte. Grundsätzlich war er schon aufgrund eines vom christlichen Tugendkatalog geprägten Herrscherbildes gehalten, Bitten zu entsprechen. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist freilich, dass die Bitten auch gerechtfertigt sein mussten, etwa wenn der Verdienst- und Belohnungsaspekt betont wird. Doch handelt es sich hierbei nicht um ein klar definiertes Geschäft: Indem der König nämlich zugleich betont, seine Begünstigungen "aus freien Stücken" zu gewähren, erwirbt er Herrschaftslegitimität. Diese aber berechtigt ihn ganz allgemein zum Einfordern von politischen Gegenleistungen. Es ist eben diese Unschärfe im Tauschverhältnis, die die Bitte und ihre Erfüllung als Instrumente politischen Handelns von Verträgen und anderen Rechtsbeziehungen unterscheidet.

Seit dem Hochmittelalter verliert man an einer derart vagen Bestimmung der zwischen König und Fürsten existierenden Verpflichtungen offenbar zunehmend das Interesse, wofür dem spektakulären Vorgang von Chiavenna, das Beharren des Löwen auf seiner nicht bestehenden Heerfolgepflicht, paradigmatischer Charakter zukommt. Gefragt sind nunmehr klare Rechtsverhältnisse. Doch kann auch diese "rationalisierte" Herrschaft auf die im Bitten enthaltene Symbolik der Freiwilligkeit, des Konsenses nicht verzichten. Belehnungen etwa, von Garnier ausführlich erörtert, kleiden sich in die Gestalt eines immer aufwändiger inszenierten, die Lehnsbitte betonenden Zeremoniells. Auch wenn der Lehnsherr kaum noch eine reale Verfügungsfreiheit über das Lehen besitzt, lässt er sich durch die vom Vasallen erzeigte Untertänigkeit doch immerhin zeremoniell entschädigen (226). Die Bedeutung des so gewonnenen symbolischen Kapitals sollte dabei keineswegs unterschätzt werden. Ein anderes Feld, wo dem Bitten und seiner demonstrativen Gewährung beziehungsweise auch Ablehnung eine große Bedeutung zukommt, ist der Bereich der Gerichtsbarkeit, wo die Entwicklung von der Adaption kirchlicher Bußformen hin zur zunehmenden Betonung der Strenge des Herrschers, der dem "rigor iustitiae" verpflichtet ist, geht.

Spannend sind die Erörterungen zum Thema herrscherlicher Bitten gegenüber ihren Untertanen. Sind diese zunächst vor allem als Bitten des sakralen Rang besitzenden Königs gegenüber Gott stilisiert (93ff.), entwickeln sie sich in der Bedrängnis des Investiturstreits in einer die herrschaftliche Autorität gefährdenden Weise zum inflationär gebrauchten Mittel königlicher Politik (106-143). Damit aber werden sie schließlich unzeitgemäß, wofür schon der "Skandal" von Chiavenna steht.

Garniers Untersuchung zum politischen Instrument der Bitte streift auch Bereiche, wo der Terminus zwar direkte Verwendung findet (Prekarie, preces primariae, Suppliken), es sich aber doch nur um spezifische Rechtsinstrumente oder (bei Suppliken) um bloße Anträge an die kuriale Verwaltungsbehörde handelt. Die im Lauf der Zeit zunehmende Verrechtlichung symbolischer Kommunikationsformen wird hier besonders deutlich - es fragt sich, ob es hier überhaupt noch Sinn macht, von Bitten zu sprechen. Ungeachtet dieses Einwandes darf abschließend festgehalten werden, dass Claudia Garnier mit ihrer Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Entschlüsselung einer wichtigen Kategorie politischer Interaktion der Vormoderne geleistet hat.

Robert Gramsch