Günter Grass: Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990, Göttingen: Steidl-Verlag 2009, 256 S., ISBN 978-3-86521-881-0, EUR 20,00
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Die Geschwindigkeit, mit der im Jahre 1990 der Zug in Richtung deutsche Einheit Fahrt aufnahm, hat fast alle Zeitgenossen überrascht: Hochrangige Politiker wie einfache Bürger, scharfsinnige Experten im In- und Ausland, wortgewaltige Intellektuelle - nur wenige wussten, wie ihnen geschah, und nur wenigen gelang es, die Zeichen der Zeit frühzeitig zu entschlüsseln. Einer der Exponenten des linksliberalen westdeutschen Establishments tat sich besonders schwer mit einer fundamentalen Umwälzung, die geeignet war, sein politisch-historisches Koordinatensystem gefährlich ins Wanken zu bringen: Günter Grass. Der Verfasser der "Blechtrommel", der in den 1970er Jahren Willy Brandts neue Ostpolitik öffentlichkeitswirksam unterstützt hatte, sah die Existenz zweier deutscher Staaten als gleichsam natürliche Folge des Zweiten Weltkriegs an und erkannte in der Teilung die gerechte Strafe für die nationalsozialistischen Verbrechen zwischen 1933 und 1945. Dementsprechend bedrohlich mussten ihm Veränderungen des politischen und territorialen Status quo in Mitteleuropa erscheinen, die eine Überwindung der deutschen Teilung in den Bereich des Möglichen rücken ließen, zumal dann, wenn sie sich im Zeichen der Bonner Republik vollzog.
Günter Grass begleitete den Annäherungs- und Vereinigungsprozess aber nicht nur mit galligen Reden und Diskussionsbeiträgen, die mehr Kopfschütteln als Zustimmung auslösten, er brachte seine Gedanken und Eindrücke auch in einem Tagebuch zu Papier, das er in dem ereignisreichen Jahr 1990 regelmäßig führte. Grass hat diese Aufzeichnungen just in dem Jahr veröffentlicht, in dem sich der Fall der Mauer zum zwanzigsten Male jährte. Er hätte dies zum Anlass nehmen können über die friedliche Revolution in der DDR, den Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik und das schwierige Zusammenleben von Ost- und Westdeutschen zu reflektieren und seine Gedanken von einst aus der Distanz von zwei Jahrzehnten auf ihre Substanz abzuklopfen. Doch nichts davon. Ein einleitender Essay fehlt ebenso wie eine zusammenfassende Schlussbetrachtung oder andere erklärende Kommentare des Autors. So erscheint das Tagebuch als Bekräftigung seiner Positionen von damals und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als gefiele sich Grass angesichts der bis heute anhaltenden Diskussionen um die Defizite des Vereinigungsprozesses in der Pose des triumphierenden Besserwissers.
Wie fern Grass jeder Gedanke an ein Ende der Zweistaatlichkeit lag und wie wenig er mit den revolutionären Umwälzungen in der DDR anzufangen wusste, machen gleich seine ersten Kommentare deutlich - verfasst in der sicheren Obhut seines portugiesischen Domizils, wo er den Jahreswechsel 1989/90 verbrachte: So notierte er am 2. Januar (7) über die Arbeit am Manuskript seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung: "Ich habe mir dieses Thema [Schreiben nach Auschwitz], an dem ich nur scheitern kann, offenbar auferlegt, um mich festzulegen; verdächtig viele meiner schreibenden Kollegen, die vormals den (oder ihren) nachgeholten Antifaschismus aufsagen konnten wie 'Schillers Glocke', sind zur Zeit national bis an die Grenze zum Stumpfsinn gestimmt; mir hingegen, dem viele deutsche Besitzstände im Verlauf der Jahre abhanden gekommen sind [...], will Auschwitz vorkommen, wie eine zuletzt verbliebene Möglichkeit, mich auf Deutschland zu berufen. (Will versuchen, in der Frankfurter Rede das angebliche Recht auf deutsche Einheit im Sinne von wieder-vereinigter Staatlichkeit an Auschwitz scheitern zu lassen.)" Die Indienstnahme des Holocaust für die Bekräftigung eigener politischer Überzeugungen befremdet ebenso wie die Geringschätzung des Strebens vieler DDR-Bürger nach der Freiheit eines liberal-demokratischen Systems und dem Wohlstand der bundesdeutschen Konsumgesellschaft. Angesichts der Emphase, mit der Grass immer wieder in den kulinarischen Köstlichkeiten der Welt schwelgt, wirken diese Passagen nicht selten geradezu burlesk.
Als sich im Laufe des Frühjahrs abzeichnete, dass eine rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten tatsächlich auf der Tagesordnung stand, und zwar in der Form eines Beitritts der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes, war auch Grass klar, dass der Zug abgefahren war. Er gab jedoch die Hoffnung nicht auf, dass sich die Richtung dieses Zuges noch würde beeinflussen lassen und setzte auf konföderative Modelle jenseits des Nationalstaats. Entsprechend geißelte er die entstehende "Großbundesrepublik" (40), den "Anschluß" der DDR und die "im Zugriff" geübten westdeutschen "Kolonialherren" (51), die "Häßlichkeit dieser Vereinigung" (115) und die angeblich grassierende "Blitzkriegsmentalität". Die Schurken in diesem schwarz-weißen Bubenstück standen für Grass von Anfang an fest: Dröhnende "Großpolitiker" (47) wie Helmut Kohl und Theo Waigel, flankiert von einheitstrunkenen Meinungsmachern jeder Couleur. Doch seine Helden suchte er vergeblich. An Willy Brandt beunruhigte ihn nur allzu bald, "wie er der Einheit das Wort redet" (30), an Oskar Lafontaine störte ihn seine Konzeptlosigkeit, die SPD war ihm zu willfährig, Hans Modrow - "menschlich, wissend, leidensfähig" (47) -, aber auch Ibrahim Böhme erwiesen sich als untaugliche, weil belastete Verbündete, und die Menschen der DDR, mit denen er sich zu solidarisieren suchte, vertraten offenbar mehrheitlich Positionen, die nicht die seinen waren, wie sich spätestens mit den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 zeigte.
Am Ende schien Grass jeden Misserfolg des Einigungsprozesses als Bestätigung seiner "Unkenrufe" geradezu zu begrüßen. Nicht zuletzt dieser Hang zur trotzigen Rechthaberei macht die Lektüre dieser Aufzeichnungen zuweilen so quälend, in denen sich Grass mehr als anregender Ratgeber für den täglichen Speisezettel - Langustinen in Knoblauch, Kabeljau-Rogen mit frischem Koriander und Zwiebelringen in Essig eingelegt oder Kutteln auf neapolitanische Art - erweist denn als hellsichtiger, zur Selbstkritik fähiger politischer Intellektueller.
Thomas Schlemmer