Karsten Holste / Dietlind Hüchtker / Michael G. Müller (Hgg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure - Arenen - Aushandlungsprozesse (= Elitenwandel in der Moderne; Bd. 10), Berlin: Akademie Verlag 2009, 294 S., ISBN 978-3-05-004562-7, EUR 44,80
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Ronald Hyam: Understanding the British Empire, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Mandy Banton (ed.): Administering the Empire, 1801-1968. A Guide to the Records of the Colonial Office in The National Archives of the UK, London: School of Advanced Study (SAS), University of London 2008
John Darwin: The Empire Project. The Rise and Fall of the British World-System, 1830-1970, Cambridge: Cambridge University Press 2009
Der vorliegende Band versammelt Diskussionsbeiträge, die zwischen 2000 und 2007 im Rahmen des DFG-Projektes "Von Ständegesellschaften zu Nationalgesellschaften. Elitenwandel und gesellschaftliche Modernisierung in Ostmitteleuropa (1750-1914)" am geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig gehalten wurden. Die vierzehn Kapitel verorten sich zwischen "bürgerlichem Wertehimmel" und Adligkeit. Sie sind in vier "Arenen" mit den Titeln "Das Staatliche", "Das Ökonomische" "das Politische" und "Das Kulturelle" gegliedert. Welche Praktiken in welchen Arenen ermöglichten Elitenformierung? Mit dieser Leitfrage, so die Herausgeber in ihrer Einleitung, sollen Deutungs- und Distinktionsmuster neuer und alter Eliten deutlich gemacht werden. Mit Reverenz an Rudolf Brauns Anmerkungen zum Obenbleiben nimmt der Band seinen Ausgangspunkt in der Adelsforschung, wobei dieser Begriff problematisiert und nicht alleine als ein Indiz für "Modernitäts-Rückständigkeit" (12) begriffen wird.
Wird Modernisierung zwangsläufig vom Bürgertum angeführt? Claudia Kraft fragt in ihrem Beitrag nach alternativen freiwilligen oder erzwungenen Anpassungsleistungen, Modellen der Modernisierung und ihren Trägergesellschaften. Konkurrierende Reformprojekte der polnischen Adelsrepublik trafen in der Lokalverwaltung des Herzogtums Warschau (1807-1813) aufeinander. Dabei zeigten sich zwei Adelskonzepte und Staatsverständnisse: Dem von 'Gesinnungsadel' geprägten alten Adelsreformprogramm stand die Neuformulierung von "Adligkeit" durch kleinadlige und bürgerliche Reformpolitiker gegenüber. Bernhard Schmitt diskutiert in seinem Kapitel das als aufrührerisch geltende "Adelsproletariat". Für die Teilungsmächte Preußen und Österreich stellte sich die Frage nach Strategien adliger Inklusion, um den zahlreichen polnischen Adel und das "Adelsproletariat" an den Staat anhängiger zu machen, und außer Gelegenheit zu setzen, durch seine "revolutionären Grundsätze dem Staate gefährlich zu werden" (62). Preußen suchte diese Integration über militärische Elitenpolitik, über Militärakademien und Kadettenanstalten sowie über die Rekrutierung von Offizieren zu erreichen, die durch den Treueid nun zur Loyalität verpflichtet waren. Wie sich Staatstreue in einem Vielvölkerstaat mit diversen Konfessionen und nicht-adligen Minderheitseliten herstellen lässt, zeigt Victor Karady anhand der Diskussion um einen "assimilatorischen Gesellschaftsvertrag" (66) in Ungarn, der als Gegenleistung für Staatsloyalität Assimilationsangebote machte. Solche Angebote betrafen etwa muttersprachlichen Elementarunterricht, freien Zugang zu Bildungseinrichtungen, zum öffentlichen Dienst, oder zur Armee. Yvonne Kleinman wirft mit ihrem Beitrag ein wichtiges Schlaglicht auf das Verhältnis von Säkularisierung und Religion. So zeugten die Selbstreform der jüdischen Gemeinden und die Transformation des traditionellen jüdischen Verwaltungsorgans des Kahals im Zarenreich im 19. Jahrhundert von einem dynamischen Eigenleben der jüdischen Minderheit.
Mit den Wirtschaftsvereinen spricht der Sammelband ein 'klassisches' Thema der Bürgertumsforschung an: Nicht nur um Maximen rationalen wirtschaftlichen Handelns ging es etwa im 1830 gegründete "Ungarischen Landes-Wirtschaftsverein", sondern auch um das Einüben ziviler Formen der Interaktion von Magnaten, adligen Großgrundbesitzern und Wirtschaftsbeamten (András Vári). Ganz ähnlich strebte das polnische Programm der "Organischen Arbeit" an, sowohl nationale Traditionen gegen die preußische Germanisierungspolitik zu pflegen als auch landwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, so Witold Molnik.
Mit der Praxis von Selbstbehauptungen und -stilisierungen beschäftigen sich mehrere gewinnende Beiträge: Charlotte Tacke vergleicht verschiedene Mechanismen adliger Vergesellschaftung durch die Jagd in Italien und Deutschland um 1900. Philip Ther untersucht den schwindenden Einfluss des osteuropäischen Adelstheaters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugunsten eines aufsteigenden Bildungstheaters, - eine "Verlagerung kultureller Macht" (250) mithin, die im Kontext der Nationalbewegungen am Beispiel von Prag und Lemberg betrachtet wird.
In Anlehnung an Karl-Siegbert Rehbergs Institutionalisierungskonzept geht Josef Matzerath zudem dem Elitenwandel anhand der Préséances, der Sitzordnung, des sächsischen Landtags nach: Das Raumarrangement des Parlaments kommt hier als Arena sozialer Ordnung sehr plastisch in den Blick.
Von solchen Schnitten in die Alltagspraxis und Aushandlungsprozesse der politischen Kultur, in Repräsentations- und Wahrnehmungsmuster wünscht man sich mehr. Auch die Beziehung zwischen den im Titel so rhetorisch prägnant angeführten "Arenen", "Akteuren" und "Aushandlungsprozessen" legt schließlich eine Untersuchung von Kommunikationsprozessen in Text und Praxis nahe, die sich weiter verfolgen ließe. Wenngleich also die Diskussionsbeiträge an sich viele Perspektiven eröffnen, bleibt der Leser doch mit einigen Fragen zur Konzeptionalisierung des Bandes zurück:
So berechtigt es sicherlich auch ist, jene Forschungspositionen in Frage zu stellen "die inzwischen den Charakter von unhinterfragten Setzungen angenommen haben" - namentlich die Untersuchung "spezifischer sozialer Großformationen" "wie dem europäischen Bürgertum im 19. Jahrhundert" (9) -, so stellt sich dem Leser dennoch die Frage, ob es tatsächlich das Anliegen der Beiträge gewesen sein soll, gegen das "Argumentationskorsett einer westeuropäischen oder deutschen Normalgeschichte" des Wandels im 19. Jahrhundert "anzuschreiben" (8): An kaum einer Stelle des Bandes lässt sich der Bezugsrahmen der verschiedenen Bürgertumsforschungsprojekte leugnen, auf die einige Beiträge auch explizit verweisen. Viele der Aufsätze lassen sehr vielseitige Strategien ums 'Obenbleiben' erkennen, die umso interessanter erscheinen, als sie allein schon aufgrund des multi-ethnischen und multi-religiösen Zuschnitts ostmitteleuropäischer Gesellschaften einfache modernisierungstheoretische Modelle, von denen man sich heute längst verabschiedet hat, klar als viel zu kurz gegriffen identifizieren. Den Beiträgen gelingt es dabei, Thema und Region als eigenständigen, lohnenden Gegenstand auszuweisen.
Auffällig ist also die einleitende Unentschiedenheit, wie es gelingen kann, sich zwischen Bürgertums- und Adelsforschung zu verorten und trotzdem den regionalen Schwerpunkt als eigenständig und Sinn tragend auszuweisen. Dabei wäre dies gar nicht schwer: Die Beiträge liefern ein solches Kaleidoskop. Eine Suche nach Vergleichen, Überlagerungen und Synergien drängen sich beim Lesen auf: Etwa bei der Einführung des Code civil in Polen/Herzogtum Warschau; oder bei der Rolle von Wirtschaftsvereinen in Analogie zu Bildungs-/Geselligkeitsvereinen, zumal wenn diese "Casino" heißen. Und dem Vergleich ist ja nun zu Eigen, dass dessen Gegenstände zunächst in ihrer Eigenständigkeit begriffen werden. Die Stärke des Bandes liegt in seiner Einladung zum Querlesen.
Verena Steller