Rezension über:

Eva-Maria Stolberg: Sibirien: Russlands "Wilder Osten". Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; Bd. 95), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 392 S., ISBN 978-3-515-09248-7, EUR 52,00
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Rezension von:
Moritz Florin
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Stellungnahmen zu dieser Rezension:

Stellungnahme von Eva-Maria Stolberg mit einer Replik von Moritz Florin

Empfohlene Zitierweise:
Moritz Florin: Rezension von: Eva-Maria Stolberg: Sibirien: Russlands "Wilder Osten". Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/02/17205.html


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Eva-Maria Stolberg: Sibirien: Russlands "Wilder Osten"

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Die Habilitationsschrift Sibirien: Russlands "Wilder Osten" von Eva Maria Stolberg gibt sich ambitioniert: Stolberg schreibt eine Geschichte des Großraumes Sibirien im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei beschränkt sie sich nicht auf einen Aspekt, vielmehr untersucht sie sowohl Mythen, als auch die "soziale Realität". Gleichzeitig spart sie auch zentrale Aspekte der Politik- und Diplomatiegeschichte nicht aus. Für ihre Recherchen ist Stolberg den Angaben im Literaturverzeichnis zufolge nicht nur nach Moskau, sondern auch nach Vladivostok, Blagoveščensk, Irkutsk, Čita, Krasnojarsk, Chabarovsk, Novosibirsk, Omsk, Tomsk, Kemerovo, Ulan Udė, Tokio und Washington gereist. Sie zitiert in ihrer Arbeit sowohl russische als auch englische, chinesische und japanische Quellen und Literatur. Ihr Ziel ist dabei die transregionale und transkulturelle Erweiterung der Perspektive. Historische Raumanalyse, so Stolberg, solle nicht mehr aus der Perspektive des unterwerfenden Zentrums, sondern aus den Regionen selbst erfolgen (12). Stolberg unternimmt also nicht weniger als den Versuch einer neuen Gesamtschau der Geschichte der Großregion Sibirien mit einem besonderen Fokus auf dem Zeitraum von 1890 bis 1945.

Auch wenn Stolberg den Begriff "transnational" nicht ausdrücklich verwendet, ist ihre Geschichte Sibiriens ein Musterbeispiel für eine Transnationalisierung der Geschichtsschreibung: Stolberg versucht, Transfers zwischen "Russlands Wildem Osten" und China, Japan, Westeuropa oder auch den USA einzubeziehen. Sie beschreibt grenzüberschreitende Migrationen, Wirtschaftsströme, Reisen und Verflechtungen. Auch bezieht sie in ihre Arbeit außereuropäische (chinesische und japanische), sowie sibirische indigene Perspektiven ein. Nicht zuletzt vergleicht Stolberg Russlands "Wilden Osten" immer wieder mit Amerikas "Wildem Westen", teilweise auch mit Australien oder der Mandschurei. Diese Perspektiverweiterung ist insbesondere für das 19. Jahrhundert verdienstvoll: Die Erschließung und damit Aneignung des Raumes unter anderem durch die transsibirische Eisenbahn verweist darauf, dass es hier tatsächlich um eine Binnenkolonisation und Inbesitznahme einer Region ging, die in vielfältiger Weise mit der Geschichte Chinas und Japans verflochten war. Gleichzeitig bestanden durchaus zahlreiche Parallelen zwischen der Aneignung und Kolonisierung Sibiriens und der des amerikanischen Westens.

Hier liegt allerdings auch das zentrale konzeptionelle Problem ihrer Arbeit: Oft nimmt Stolberg Transfers einfach an, ohne diese überzeugend nachweisen zu können. Der Vergleich gerät so zu einer Suche nach Parallelen zwischen Russlands "Wildem Osten" und Amerikas "Wildem Westen". So wirkt beispielsweise die Aufzählung von Parallelen zwischen Roosevelts "New Deal" und der Politik Stalins erzwungen und trägt letztlich wenig zur Erklärung der stalinschen Politik bei. Problematisch ist auch die Verwendung von Begriffen wie "El Dorado" für die Goldminen Sibiriens (153), "Cowboy" für Kosake (234), "Indianer" für die Indigenen Sibiriens (283) oder auch der nicht näher definierte Begriff "Genozid" für Sibirien und den amerikanischen Westen (240). Der, wie Stolberg selbst schreibt, "Mythos" von Sibirien als "Wildem Osten" mit zahlreichen Parallelen zum "Wilden Westen" wird so befördert, ohne dass die viel wesentlicheren Unterschiede klar herausgearbeitet würden.

Insgesamt fehlt dem Werk die eindeutige Fragestellung oder These, die notwendig gewesen wäre, um ein Thema dieses Umfangs zu fassen. So kündigt Stolberg zwar in der Einleitung an, erstmals die Frontier-Theorie von Frederick Jackson Turner auf Sibirien anwenden zu wollen (13). Abgesehen davon, dass dies bereits W. Bruce Lincoln getan hat, bleibt der Nutzen der Frontier-These für die Erklärung der Geschichte Sibiriens unklar. So ist es letztlich banal, festzustellen, dass Sibirien eine Grenzregion war und ist. Kann man jedoch auch die durchaus problematische These Turners, dass die amerikanische Mentalität und "Exzeptionalität" wesentlich durch die Erfahrung der "Frontier" beeinflusst worden sei, auf Russland übertragen? Anders gefragt: Wie hängen Mentalität, Mythos und soziale Realität zusammen? Zwar unternimmt Stolberg in einem eigenen Kapitel den Versuch, sich von der These Turners abzugrenzen (57-72). Damit behebt sie allerdings nicht das konzeptionelle Problem ihrer Arbeit: Die von ihr beabsichtigte Verbindung der zahlreichen russischen und nichtrussischen Perspektiven, Mythen und Wahrnehmungen mit der Darstellung der "sozialen Realität" Sibiriens. Ursachen, Wirkungen, Einflüsse, Wahrnehmungen, "Realitäten" werden ständig vermischt, die transnationale Perspektive schafft so eher Verwirrung als Klarheit.

Stolberg ordnet ihre Arbeit in einen internationalen Kontext der Erforschung von Grenzlandschaften ein. Die Russlandhistoriographie qualifiziert Stolberg hingegen immer wieder ab: Diese isoliere sich selbst, ignoriere transregionale Entscheidungsmechanismen und vernachlässige die asiatische Peripherie (11-12). Gleichzeitig ignoriert Stolberg jedoch einen Großteil der wissenschaftlichen Literatur: Für das 19. Jahrhundert hätten unter anderem die Arbeiten von Claudia Weiß, Mark Bassin oder Anatolij V. Remnev Berücksichtigung verdient gehabt. Auch die russischsprachige Forschung, die unter anderem im Umfeld der Zeitschrift "Ab Imperio" entstanden ist, fehlt im Literaturverzeichnis. Zentrale Werke zur russischen Revolution, dem russischen Bürgerkrieg, der Geschichte der sowjetischen Lager, dem Stalinismus und der sowjetischen Nationalitätenpolitik bleiben unberücksichtigt (u.a. die Namen Norman Pereira, Anne Applebaum, Oleg Chlevnjuk oder Terry Martin fehlen im Literaturverzeichnis, um nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zu nennen).

Zahlreiche Fehler in Rechtschreibung, Kommasetzung, Grammatik, im Satzbau, sowie Verschiebungen im Drucksatz beeinträchtigen die Lesbarkeit des Textes. Auch das Register ist kaum zu gebrauchen: Stichproben ergaben, dass die Seitenangaben um zwei bis vier Seiten verschoben sind und dass zahlreiche Namen, die im Text auftauchen, im Register fehlen.

Insgesamt bleibt das Verdienst Stolbergs, den Blick auf die transnationale Dimension der Geschichte Sibiriens gelenkt zu haben. Auch die Konzeptionalisierung Sibiriens als "Binnenkolonie" und der Vergleich mit dem amerikanischen "Westen" ist vielversprechend. Es fehlt dem Buch jedoch die konzeptionelle Klarheit, um diese interessanten Ansätze gewinnbringend umzusetzen. Das im Klappentext angekündigte "Oszillieren" zwischen "Annäherung und Distanz" verwirrt mehr, als dass es Klarheit schafft. Ausländische Perspektiven oder "Mythen" stehen russischen Perspektiven unvermittelt gegenüber und werden nicht kontextualisiert. Den Vergleich beschränkt Stolberg meist auf das Suchen nach Gemeinsamkeiten, ohne ausreichende Würdigung der Unterschiede. Auch die Berücksichtigung der Forschung der letzten zehn Jahre hätte dem Buch gut getan. Stolbergs Arbeit eröffnet somit viele interessante Perspektiven, vermag aber als ambitionierte Gesamtschau der Geschichte Sibiriens nicht zu überzeugen.

Moritz Florin