Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 36), Tübingen: Niemeyer 2008, VIII + 335 S., ISBN 978-3-484-81036-5, EUR 89,95
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Annette Meyers Dissertation "Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit" beschäftigt sich, wie der Untertitel anzeigt, mit der "Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung". Sie geht davon aus, dass es vor allem die Erfahrung des Fremden und Exotischen, des Anderen war, die die Hinwendung des Menschen zu sich selbst motivierte. Maßgeblich hierfür sei die Wahrnehmung bisher unbekannter Länder und deren Bewohner gewesen. Allen voran ist dabei natürlich die Entdeckung Tahitis zu nennen, die durch den Reisebericht Louis Antoine de Bougainvilles zu einem europäischen Großereignis wurde. Zusammen mit Jean-Jacques Rousseaus Kulturpessimismus und dem dadurch entscheidend motivierten Naturmythos erzeugte die facettenreiche Tahiti-Rezeption in Frankreich eben jene Gemengelage, in der sich das "Erkenne dich selbst" des Orakels von Delphi, das viele Forscher für einen der Hauptdenkstränge der Aufklärung halten, voll durchsetzte.
Meyer untersucht nun die schottischen Versionen dieser Aufstellung von Theorien über den Menschen und die Menschheitsgeschichte, wobei Adam Ferguson sicherlich der bekannteste Vertreter der anthropologisch argumentierenden Schottischen Schule ist. Und natürlich sind auch David Humes erkenntnistheoretische Schriften zu nennen, die zusammen mit naturrechtlichen Argumentationsketten das Fundament der "Science of Man" bildeten. Das innovative Moment der Studie Meyers besteht darin, die, schottischen Anthropologen einer Analyse zu unterziehen und als eigenständige Gruppe mit zwar differenten Überlegungen, aber gemeinsamen Methoden und Fragestellungen zu interpretieren. Vor allem kann sie aufzeigen, dass es die Infragestellung des biblischen Weltbildes war, die jenen Raum öffnete, der dann mit empirisch verfahrenden Wissenschaftskonzepten gefüllt werden konnte (155-167). Parallel hierzu wurden auch die metaphysischen Systeme sukzessive abgelöst. Meyer zu Folge überschneidet sich in letzter Konsequenz dieses charakteristische Feld der Entstehung unserer Moderne mit der Herausbildung der Wissenschaft vom Menschen in der schottischen Aufklärung. Hervorzuheben ist auch, dass sie dabei über die normalerweise übliche Quellenauswahl hinausgeht und ein in seiner Breite überzeugendes Forschungsfeld konstruiert, das auch populärphilosophische Arbeiten oder etwa das Wirken einzelner Verleger und Universitäten einbezieht.
Die deutsche Spätaufklärung sieht Meyer als Rezipienten der schottischen Entwicklung. Dabei geht sie von der These aus, "dass die Auseinandersetzung mit den schottischen Abhandlungen vielfach zum Ausgangspunkt für eigenständige Untersuchungen zu Mensch und Menschheit genommen wurde" (9). Es entstanden innerhalb kurzer Zeit zahlreiche Texte und Werke, die sich diesem Unterfangen verpflichtet sahen. Johann Gottfried Herder bezeichnete in diesem Sinne die Wissenschaften vom Menschen als "Modestudium". Die deutschen Schriften zeichnen sich daher auch durch den Versuch aus, die vorhandenen Erkenntnisse und empirischen Fakten zu systematisieren. Meyer kann einen Weg aufzeigen, der die deutschen Anthropologen zuerst als Übersetzer der schottischen Aufklärung begreift, die während dieser Aneignung in einem weiteren Schritt zu eigenen Konzepten durchdrangen. Diese präsentierten sie entweder in den Übersetzungen in Form von Kommentaren etc., oder sie überführten sie in eigene Abhandlungen, teilweise sogar zu anderen Wissenschaftsgebieten. Auch für die deutsche Spätaufklärung ortet Meyer eine heterogene Theorielage, die dennoch, gerade mit Blick auf die schottischen Modelle, mehrere Gemeinsamkeiten aufweise: die theoriegeleitete empirische Forschung, die Fokussierung auf den Menschen und seine Antriebsstruktur, die Betonung des Individuums und die Übertragung anthropologischer Merkmale auf die konstruierten Menschheitsgeschichten (298). Die philosophisch gedeutete Geschichte des Individuums und der Menschheit werden solchermaßen analogisierbar - ein Verfahren, das an die französische Geschichtsphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erinnert.
Der wesentliche Grund für die angesprochenen Übereinstimmungen ist Meyer zu Folge in den Umbrüchen in der Wissenschaftslandschaft zu sehen, die in Schottland genauso wie in Deutschland beobachtet werden könnten. Thematisch zu bestimmen seien sie vor allem dadurch, dass die bekannten Wissenssysteme brüchig wurden und damit die akademischen Einrichtungen (im weiteren Sinne) mit ihrer überlieferten Ausrichtung den neuen Wissensstand nicht mehr abbilden konnten. Den Universitäten, so kann Meyer belegen, kam in diesem Prozess eine besondere Rolle zu, da sie sich teilweise als Reformuniversitäten verstanden und in ihrer institutionellen, inhaltlichen sowie auch methodischen Bestimmung den neuen Wissenschaftsansätzen entgegen kamen (52-92).
Es ist ein Stück weit bedauerlich, dass Meyer in ihrer Dissertation die Theorien und Diskurse der französischen Aufklärung nicht deutlicher und intensiver berücksichtigt. Gerade für die deutsche Spätaufklärung lässt sich allerdings eine durchaus mehrschichtige Rezeptionslage ausländischer Literaturen erkennen, in der die französischen Texte immer präsent sind. Dabei könnten gerade die Erkenntnistheorie in der Prägung Condillacs, die Arbeiten der Idéologues während der Revolution oder die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sich verstärkenden Forschungen zur Sprachursprungsfrage weitere Hinweise zur Rekonstruktion der Darstellung der Wissenschaftsgeschichte der Anthropologie liefern. Das gilt besonders für den Diskurs der Sprachentstehung, der durch Maupertuis' Vermittlung als Präsident der Berliner Akademie in Deutschland Spuren hinterließ, die bis in Herders entsprechende Abhandlungen hineinreichen. Allerdings kann die Ausblendung dieses weiten und facettenreichen Feldes der Thematisierung des Menschen und der Philosophie über seine vermutete Geschichte Meyer nicht zum Vorwurf gemacht werden. Denn sie resultiert in hohem Maße aus der Themenstellung, d. h. dem Versuch der interpretativen Analyse der deutschen Spätaufklärung im Spannungsfeld von Rezeption der schottischen Aufklärung und der Ausprägung eigener Theorien als Reaktion auf die wissenschaftliche Gegenwart sowie Selbsteinschätzung. Meyers Dissertation stellt in diesem Sinne einen herausragenden Beitrag zur Aufarbeitung der Epoche der Aufklärung dar, die sich innerhalb der nächsten Jahre in der Forschung behaupten wird. Auf der Basis einer gut recherchierten und breiten Quellenbasis ist es ihr gelungen, die, wenn auch etwas einseitige, Dialogstruktur zwischen schottischer und deutscher Aufklärung herauszuarbeiten bzw. die Entstehung der anthropologischen und teilweise auch kultur- und menschheitsgeschichtlichen Argumentationsstränge der deutschen Spätaufklärung als Teil der Aneignung der schottischen Theorie- und Modellmuster zu erklären. Damit konnte eine Forschungslücke geschlossen werden, die auch die vorhandenen Schriften des anglo-amerikanischen Sprachraums bislang nicht zu füllen vermochten.
Andreas Heyer