Jörg Requate: Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik (= Campus Historische Studien; Bd. 47), Frankfurt/M.: Campus 2008, 455 S., 6 s/w Abb., ISBN 978-3-593-38761-1, EUR 45,00
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Den Ausgangspunkt der Habilitationsschrift des Bielefelder Historikers Jörg Requate bildet die Beobachtung einer seit Mitte der 1960er Jahre signifikant anwachsenden öffentlichen Diskussion um die Rolle und Aufgaben der Justiz im demokratischen Staat (23), die die Justiz schließlich unter erheblichen Reformdruck gesetzt habe. Aus dieser Prämisse leitet Requate drei Fragen ab: 1. Woher kommt dieser Wandel im "Rechtsdenken"? 2. In welchem Zusammenhang steht diese Entwicklung mit den Studentenprotesten zum Ende der 60er Jahre? 3. Wie "nachhaltig" war diese Kritik und welche Konsequenzen wurden in der Praxis aus den Reformforderungen gezogen?
Requates Analyse beginnt mit einem Blick auf das erste Nachkriegsjahrzehnt. Bis Ende der 1950er Jahre habe sich die Justiz durchaus als ein "wirksames demokratisches Instrumentarium" erwiesen (69). Dies sei besonders an der gelungenen Etablierung des Bundesverfassungsgerichts abzulesen, das sich gegen restaurative Alleinstellungsansprüche des BGH und dessen Präsidenten Hermann Weinkauf erfolgreich verteidigt habe.
Im Verlauf der 60er Jahre entzündete sich dann eine Debatte um die Rolle der Justiz. Diese nicht zuletzt durch Kampagnen der DDR ausgelöste Diskussion betraf zunächst die Verstrickung von "Adenauers Blutrichtern" in die Politik des "Dritten Reichs", hatte aber eine erhöhte Sensibilisierung der Öffentlichkeit in Fragen der Rechtsstaatlichkeit zur Folge. Auf die wachsende Justizkritik habe die Richterschaft nicht länger nur defensiv reagiert. Für diese Öffnung sei ein generationeller Umbruch verantwortlich gewesen, mit dem auch die Voraussetzungen für einen "mentalen Umbruch" (135) geschaffen worden seien.
Den weitaus größten Teil seiner Studie widmet Requate den Entwicklungen des Justizdiskurses im Kontext der sogenannten "68er-Bewegung". Durch die APO seien Verfassungs- und Strafjustiz gleichermaßen vor eine beispiellose Herausforderung gestellt worden. Dass es unter diesen Voraussetzungen nicht zu einer Verhärtung der Fronten, sondern einer kurzen "Hegemonie des Reformdiskurses" (313) gekommen sei, führt Requate darauf zurück, dass sich inzwischen bis in konservative Kreise hinein ein Reformklima gebildet habe, das für kurze Zeit sogar einen common sense darstellte.
Requate schließt mit einer Betrachtung der Entwicklung seit Mitte der 1970er Jahre. Trotz einiger Anpassungen (Richtertitel, Möglichkeit der Publikation abweichender Voten beim Bundesverfassungsgericht) seien die großen Reformen in Justizverwaltung und Juristenausbildung ausgeblieben. Auch die linke Rechtswissenschaft habe letztlich die Waffen gestreckt und angesichts des "in vielen Bereichen konservativen Gebrauchs des Rechts und der Zurückdrängung rechtsstaatlicher Prinzipien ausgerechnet den Positivismus" wieder entdeckt (392).
Es ist das Verdienst Requates, anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen einen ersten Pflock in ein bislang weder von zeit- noch von rechtsgeschichtlicher Seite besonders beackertes Feld der Nachkriegsgeschichte geschlagen zu haben. Mithilfe eines reichhaltigen Anschauungsmaterials, das allerdings häufig nicht den Akten, sondern der Presseberichterstattung entnommen wird, rekapituliert er plastisch einige Diskursverläufe über das komplexe Verhältnis von Recht, Politik und Gesellschaft. Vor allem zu den Wechselwirkungen zwischen längerfristigen Entwicklungen der Justiz und den kurzfristigen Eruptionen der Studentenbewegung ist Requates Studie anregend.
Dennoch seien hier einige methodische und spezifisch rechtshistorische Einwände erlaubt.
Zur Bestimmung seines Gegenstands übernimmt Requate von Dieter Simon den problematischen, weil konturlosen Leitbegriff des "Rechtsdenkens". Er erzeugt damit nicht mehr als eine Art begrifflichen "Platzhalter", der ohne weitere Strukturierung allgemeine Reflexionen über das Verhältnis von Recht und Gesellschaft erlauben soll. Entsprechend schwer nachvollziehbar sind häufig Themenauswahl und Schwerpunktsetzung.
Hinzu kommt, dass die im Titel angesprochene Frage nach der "Demokratisierung der Justiz" weder historisch noch theoretisch sauber verortet wird. Justizkritik ist so alt wie die Justiz selbst und so steht die Diskussion der Nachkriegszeit um die "Klassenjustiz" in einer bis ins Kaiserreich, jedenfalls aber in die Weimarer Republik zurückreichenden Kontinuität. Juristen der 1950er und 1960er Jahre hatten etwa noch die Diskussion über Gustav Radbruchs "Resolution zur Rechtspflege" von 1921 vor Augen, wenn sie nach dem Krieg erneut über eine "Demokratisierung der Justiz" stritten. Die weitgehende Ausblendung dieser Traditionslinien (Ausnahme: 120) führt notwendig zu einer Überbetonung der Nachkriegsentwicklung.
Schwerer wiegt, dass auch die theoretische Fundierung der Demokratisierungsdiskussion sehr holzschnittartig erscheint und damit auch die Wertungskriterien im Dunkeln bleiben. Zwar schichtet der Autor zweckmäßig sechs zeitgenössische Verwendungsebenen von "Demokratisierung" ab (169ff.), die er von seinem analytischen Begriff der "inneren Demokratisierung" unterscheidet (172). Doch liefert seine Einleitung wenig Aufschluss, was er damit meint. Welche Eigenständigkeit billigt er letztlich dem System "Recht" zu? Der pauschale und zugleich ohne weitere Erklärungen wieder eingeschränkte Verweis auf Luhmanns "Recht der Gesellschaft" (20, Fn. 42) deutet zwar einen entsprechenden theoretischen Standort an, der später aber nicht mehr weiter verfolgt wird.
Im Ergebnis werden die vorgestellten Standpunkte häufig nur einer allgemeinen Ideologiekritik unterzogen. Sätze wie: "Wassermann verkörperte das Bemühen von Teilen der Richterschaft, sich von konservativen Traditionen zu lösen und zur Gesellschaft hin zu öffnen" (339) dürften nicht nur konservative Leser irritieren, die ganz nebenbei aus "der Gesellschaft" ausgegrenzt werden. Die damit insinuierte Gleichsetzung von "Gesellschaft" mit "linker Gesellschaft" muss auch denen als problematische Verzerrung erscheinen, die sich ansonsten mit vielen Positionen Requates identifizieren können, von einer wissenschaftlichen Studie aber eine gewisse Distanz zum Untersuchungsgegenstand erwarten. Dies erzeugt letztlich auch die Gefahr, dass möglicherweise nur etwas gedankenlose Formulierungen, wie diejenige, dass bei den Kaufhausbrandstiftungen der RAF im April 1968 "niemand zu Schaden gekommen war" (391), als Ausdruck einer selbst innerhalb der Linken inzwischen überholten ambivalenten Einstellung zum Eigentumsrecht verstanden werden könnten.
Viele Positionen würden durch präzisere rechtshistorische Verortung deutlich gewinnen. So hebt Requate zwar zu Recht die Bedeutung eines nach dem Zeitungsstreik von 1952 erstatteten Gutachtens des Arbeitsrechtlers Hans Carl Nipperdey zum politischen Streik hervor. Dessen Bewertung erscheint aber denkbar schief, wenn Requate hervorhebt, die Bedeutung des Gutachtens bestünde darin, dass es die Problematik in den Bereich des vermeintlich unpolitischen Zivilrechts (§ 823 BGB) verlagert habe (65ff.). Dies ist vor dem Hintergrund der Streikrechtsgeschichte und einer schon vom Reichsgericht vertretenen deliktsrechtlichen Dogmatik, die sich auf § 826 BGB stützte, erkennbar fernliegend. Wichtig ist das Gutachten vielmehr deshalb, weil es nicht nur einen folgenreichen gewerkschaftskritischen Schwenk Nipperdeys dokumentiert, sondern vor allem innerhalb seiner zivilrechtlichen Begründung eine Verhärtung gegenüber den liberaleren Positionen der Vorkriegszeit bedeutet. [1]
Trotz aller Einwände kann Requates Studie als wertvoller Einstieg in eine diffizile interdisziplinäre Problematik dienen. Sie widmet sich dabei ganz vorwiegend den besonders politiknahen Bereichen der Justiz in der spezifischen Krisensituation der späten 60er Jahre (26). Ein stimmiges Gesamtbild setzt aber nicht nur voraus, auch längerfristigere Perspektiven einzubeziehen, sondern auch die nicht weniger bedeutsamen politikfernen Rechtsgebiete in den Blick zu nehmen. Entwicklungen in der Dogmatik des Familienrechts, des Verbraucherschutzrechts oder des Gesellschaftsrechts trugen möglicherweise stärker zur Demokratisierung der Bundesrepublik bei, als die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Kontroversen und zeittypischen Reformdiskussionen. Hier bleibt für historische, vor allem auch rechtshistorische Untersuchungen noch viel zu entdecken.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu neuerdings: Michael Kittner: Arbeitskampf, München 2005, 603ff.
David von Mayenburg