Daniel Baumann: Stephen Langton. Erzbischof von Canterbury im England der Magna Carta (1207-1228) (= Studies in Medieval and Reformation Traditions. History, Culture, Religion, Ideas; Vol. 144), Leiden / Boston: Brill 2009, X + 474 S., ISBN 978-90-04-17680-5, EUR 129,00
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Die Stellung der Erzbischöfe von Canterbury im England des hohen und späten Mittelalters war ohne Zweifel herausragend. Als Anführer und Sprecher des englischen Episkopats, als reichste Magnaten und wichtigste Vasallen des Königs standen ihnen alle Möglichkeiten der Einflussnahme offen: In welchem Umfang diese Möglichkeiten tatsächlich realisiert wurden, hing freilich von den individuellen Fähigkeiten der einzelnen Metropoliten und den politischen Rahmenbedingungen ab. Vor diesem Hintergrund wird die Überraschung verständlich, mit der 1206 die Wahl Stephen Langtons zum neuen Erzbischof allgemein zur Kenntnis genommen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich seine Karriere fast ausschließlich in Paris abgespielt, wo er durch eine extensive Predigttätigkeit und einen Sentenzenkommentar von sich reden gemacht hatte. Langton war ein sozialer Aufsteiger, ohne Kontakte zum englischen Hof, ohne jedes soziale Netzwerk in der Heimat. Dass diesem Stephanus de Lingua-Tonante - so sein Epitheton als Prediger - der Aufstieg trotz fehlender politischer und administrativer Erfahrung gelang, ist den persönlichen Verbindungen zu verdanken, die er an der Universität Paris knüpfen konnte. Zu seinen Kommilitonen gehörte neben Gerald von Wales oder Robert de Courçon eben auch Lothar von Segni, der ihn als Papst Innocenz III. im Juni 1207 gegen die massiven Bedenken des englischen Königs zum Bischof weihte.
In vorliegender Augsburger Dissertation wird zu Recht häufiger auf die große Bedeutung hingewiesen, die Langtons theologischem Schaffen für das Agieren als Metropolit zukommt: Der Erzbischof und Politiker ist vom Theologen nicht zu trennen.
Die 15 Kapitel und eine Schlussbetrachtung umfassende Untersuchung versteht sich als eine Biographie Langtons, in der das Schwergewicht klar auf seinem politischen Wirken liegt, die darüber hinaus aber alle wichtigen Aspekte seines Lebens und Wirkens mit einbezieht. Nach einem historischen Überblick, in dem die Erzbischöfe als politische Entscheidungsträger behandelt werden (c. 1, 9-33), folgen Ausführungen zu Langton als Magister der Theologie in Paris (c. 2, 33-61) und eine Quellenanalyse (c. 3, 61-77), in der nicht nur die wichtigsten historiographischen Quellen für die politische Geschichte Englands zwischen 1207 und 1228, sondern auch die Urkundenproduktion der Zentralverwaltung, insbesondere der Kanzlei mit ihren jeweiligen Registerserien, beschrieben werden. Ein Register für den Pontifikat Langtons hat sich nicht erhalten, die Streuüberlieferung von bis dato 200 bekannten Urkunden erlaubt jedoch einen Einblick in die administrativen Tätigkeiten in der Erzdiözese und Provinz Canterbury.
Der Papst mochte sich mit der Weihe Langtons 1207 zwar gegen den König durchgesetzt haben, doch beharrte dieser auf seinem ablehnenden Standpunkt und verweigerte dem neuen Erzbischof die Einreise. Die Folgen sind bekannt: Nach dem Interdikt folgte im November 1209 die Exkommunikation König Johanns. Langton - stets unterstützt von Innocenz III. - nutzte die Chance, um sich zum Nachfolger des Heiligen Thomas Becket und Verteidiger der libertas Ecclesiae zu stilisieren. So sicherte er sich nach und nach die Unterstützung des englischen Episkopats. Erst im Frühjahr 1213 unterwarf sich der König dem Papst - England und Irland wurden zu päpstlichen Lehen mit durchaus positiven Auswirkungen für den König. In Zukunft sollte Innocenz III. hinter ihm und seiner Politik stehen.
Nach knappen Ausführungen zur Konfliktgenese zwischen König Johann und den Baronen (c. 5, 99-107) wird in zwei umfangreicheren Kapiteln auf Langtons politische Rolle in den kritischen Jahren 1213/1214 (c. 6, 107-149), vor allem aber auf seine Rolle als Vermittler (c. 7, 149-191) eingegangen. Nach seiner Rückkehr nach England im Juli 1213 galt Langtons Sorge zunächst der Neubesetzung der zahlreichen vakanten Bistümer und der Wiedergewinnung der Temporalien seines eigenen Bistums. Das Verhältnis zum König blieb gespannt: Erfolgreich suchte dieser beim Papst um Entsendung eines Legaten nach, durch den der Einfluss des Erzbischofs tatsächlich massiv beschnitten werden konnte. Langton hatte nach und nach an mehreren Fronten zu kämpfen: Dem König war er in herzlicher Feindschaft verbunden, der Papst reagierte mit wachsendem Unverständnis auf seine Politik und mit seinem Suffragan Peter des Roches, dem Bischof von Winchester, erwuchs ihm machtvolle Konkurrenz innerhalb des Episkopats. Mit der Schlacht von Bouvines im Juli 1214 und dem Verlust der Kontinentalbesitzungen änderten sich freilich die politischen Rahmenbedingungen: Die unzufriedenen Barone schlossen sich zu einem Bündnis gegen den König zusammen und die plötzliche Abberufung des Legaten bedeutete eine weitere Schwächung des Königs. Johann blieb wenig mehr, als den Erzbischof durch Zugeständnisse für sich zu gewinnen. Dies gelang: Langton wurde die Verhandlungsführung mit den Baronen anvertraut, was einem fundamentalen Positionswechsel gleichkam. Seine Rolle wandelte sich von der eines Fürsprechers der baronialen Forderungen in diejenige eines Chefunterhändlers. Insbesondere die schriftliche Fixierung der baronialen Anliegen ist wohl maßgeblich dem Erzbischof zu verdanken, dessen Engagement man in Rom - gestützt auf negative Berichterstattung aus England - wenig schätzte. Langtons Verdienste an der Abfassung der Magna Carta - unter Einschluss des in c. 61 festgelegten Widerstandsrechts - sind also nicht gering einzuschätzen. Sein Engagement wurde freilich nicht belohnt: Im September 1215 erfolgte seine Suspendierung durch den Papst.
Dem von 1215-1218 andauernden Exil in Rom (c. 8, 191-215) und den zeitgleich in England auftretenden Wirren des Bürgerkriegs und Regentschaftsrates (c. 9, 215-241) widmen sich die nachfolgenden Kapitel. Auch nach seiner Rückkehr 1218 hatte sich Langton mit den bisweilen recht eigenwilligen Vorstellungen dieses Regentschaftsrates auseinanderzusetzen (c. 10, 241-281). Die Vermittlungsqualitäten des Metropoliten waren in der Folge gefragter denn je (c. 11, 281-329). Er unterstützte eine auf die Rückgewinnung königlicher Machtressourcen hin ausgerichtete Politik und sicherte sich die Unterstützung des Episkopats in Hinblick auf seine gegen Prokurationen und päpstliche Provisionen gerichteten Interventionen an der Kurie: Auf beiden Gebieten konnte er Erfolge verzeichnen. Sein Wirken im Zentrum des Regentschaftsrates in den Jahren 1223-1226 (c. 12, 329-383) zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Einflusses. Von großem Interesse sind hier die Ausführungen über seine Beteiligung an der Erziehung des jungen Königs, insbesondere mit Blick auf eine Akzeptanz der 1225 in abgeschwächter Form erneut bestätigten Magna Charta.
Ab 1226 zog sich Langton langsam aus der Politik zurück (c. 13, 883-391), versäumte es dabei aber nicht, sich und den Mitgliedern seiner familia materielle Vorteile zu sichern.
Mit aufgrund der defizitären Quellenlage knappen Ausführungen zu Langtons Wirken als Erzbischof in seiner Diözese und der Kirchenprovinz Canterbury (c. 14, 391-419) und seiner Sorge um die Temporalia (c. 15, 419-435) wird die politische Biographie des Metropoliten beschlossen.
Zwei Dinge werden dabei klar und überzeugend vor Augen geführt: Langton vermochte es zum einen, politische, theologisch-theoretisch fundierte Ideen und Überzeugungen in sein Amt mit einzubringen und praktisch umzusetzen, zeigte sich zum anderen aber auch erstaunlich "lernfähig". Deutlich wird, dass Langton wohl über das verfügte, was in französischen Quellen treffend als "entregent" umschrieben wird: die Fähigkeit, Menschen für sich zu gewinnen, sie in Entscheidungsprozesse mit einzubinden und widerstrebende Interessen auszugleichen. Vollkommen zu Recht wird dabei unterstrichen, dass Langton weder ein brillanter Kopf, origineller Denker, noch ein Heiliger oder gar Charismatiker war. Der Erzbischof war kein Mann der Extreme - dafür freilich der geborene politische Vermittler. Der bleibende Wert vorliegender Arbeit dürfte trotz häufig auftretender, unnötiger Redundanzen gerade darin bestehen, die Mechanismen dieser Vermittlungstätigkeit offen gelegt und überzeugend interpretiert zu haben. Die Beschäftigung mit englischer Geschichte des Mittelalters hat nach wie vor einen viel zu geringen Stellenwert innerhalb der deutschen Mediävistik. Vorliegende Arbeit lässt einen diese Zurückhaltung aufrichtig bedauern. Zukünftig wird man bei der Beschäftigung mit englischer Geschichte des 13. Jahrhunderts auf sie zurückgreifen müssen.
Ralf Lützelschwab