Rezension über:

Jochen Oltmer: Migration im 19. und 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 86), München: Oldenbourg 2009, X + 174 S., ISBN 978-3-486-57752-5, EUR 19,80
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Rezension von:
Jenny Pleinen
Fachbereich III / SFB 600, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Jenny Pleinen: Rezension von: Jochen Oltmer: Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/16605.html


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Jochen Oltmer: Migration im 19. und 20. Jahrhundert

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Die öffentliche Diskussion über "Menschen in Bewegung" zerfällt während der letzten Jahre zunehmend in zwei Topoi: Eine politisch und gesellschaftlich erwünschte, ja teilweise sogar eingeforderte Mobilität der eigenen Bevölkerung, um einen Arbeitsplatz zu finden oder eine bessere Ausbildung zu erhalten steht der zumeist unerwünschten Immigration aus Nicht-EU-Staaten gegenüber.

Die von Klaus J. Bade begründete Osnabrücker Schule der Migrationsgeschichte hat einen zentralen Beitrag dazu geleistet, Debatten über Migration zu historisieren und eine Perspektive langer Dauer auf Europa als Auswanderungskontinent, der sich zum Einwanderungskontinent gewandelt hat, im Geschichtsbewusstsein der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu verankern. Mit Jochen Oltmer hat nun ein Vertreter dieser Schule ein erstes zur Einführung von Studierenden in das Forschungsfeld geeignetes Überblickswerk vorgelegt.

Entsprechend dem Gliederungsprinzip der Reihe "Enzyklopädie Deutscher Geschichte" besteht das Buch aus drei Teilen: Einem knappen historischen Überblick (59 Seiten), einem Forschungsbericht (65 Seiten) und einem bibliografischen Teil (33 Seiten), der zwar "Quellen und Literatur" überschrieben ist, aber nur Sekundärliteratur enthält. Leider wurde hier auf die Möglichkeit verzichtet, Studierende auf geeignete Onlinedatenbanken oder Internetseiten wichtiger Institutionen des Forschungsfeldes hinzuweisen.

Eine sinnvolle Klammer zwischen diesen drei Teilen bildet die Unterteilung der Migrationsgeschichte in Auswanderung von Deutschen seit dem 18. Jahrhundert, intra- und interregionale Arbeitswanderungen innerhalb Deutschlands, Ausländerbeschäftigung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Zwangs- und Kriegsfolgewanderungen von 1918 bis nach dem Zweiten Weltkrieg sowie Zuwanderung und Integration seit den 1950er Jahren. Dadurch werden die Bereiche Darstellung, Forschung und Literatur sinnvoll aufeinander bezogen und das Nachschlagen von Einzelaspekten erleichtert. Gleiches gilt für die sehr übersichtliche Gliederung des Textes mit den häufigen aussagekräftigen Zwischenüberschriften.

Die Darstellung zu den Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts verdeutlicht eindrucksvoll Bades These vom "Normalfall Migration": Die Zuwanderung nach Deutschland wird in die große innerdeutsche Mobilität (hauptsächlich Urbanisierung) eingebettet, die Ende des 19. Jahrhunderts bereits vor, in enormem Ausmaß aber erst in der Hochphase der Industrialisierung stattfand. Anfang des 20. Jahrhunderts lebte nur die Hälfte aller Deutschen noch an ihrem Geburtsort. Auch einzelne "Wanderungssysteme" werden in diesem Zusammenhang teilweise recht detailliert dargestellt und so die Vernetzung ganzer Regionen durch generationenübergreifende Wanderungen aufgezeigt.

Der Schwerpunkt des Bandes liegt deutlich auf der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Das zeigt sich bereits an der Seitenzahl - nur 7 Seiten des historischen Abrisses entfallen auf die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik und der DDR. Dies erscheint angesichts der Konzeption eines beide Jahrhunderte umfassenden Werkes und der sehr detaillierten Darstellung der Wanderungssysteme weniger tausend Personen, die im Kapitel zum 19. Jahrhundert teilweise mit einer ganzen Seite bedacht werden, etwas knapp. Da auf diesen wenigen Seiten an manchen Stellen auch noch bereits abgedruckte Statistiken beschrieben werden und die Zuwanderung der Spätaussiedler mitbehandelt wird, verbleibt für die Darstellung der doch recht komplexen Zusammenhänge der Immigration von Ausländern zuwenig Raum. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, die europäische Integration mit ihren Folgen wie Freizügigkeit für EWG-Staatsangehörige seit 1968 überhaupt nicht erwähnt.

Der Band thematisiert - dem Konzept der Reihe entsprechend - Migrationsgeschichte nur insoweit sie Teil der deutschen Geschichte ist. Die mit dieser Beschränkung der Darstellung eines per se grenzüberschreitenden Prozesses auf einen nationalstaatlich verfassten Raum einhergehenden Schwierigkeiten werden vom Autor selbst thematisiert (IX). Diese Vorgehensweise ermöglicht es, Auswanderungs- und Einwanderungsprozesse von und nach Deutschland systematisch aufeinander zu beziehen. An manchen Stellen scheinen die mit der Schwerpunktsetzung auftretenden Probleme solche Vorteile jedoch zu überwiegen: So konzentriert sich der Forschungsbericht zu "Flucht und Vertreibung" nahezu ausschließlich auf die Literatur zur Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, während die Flucht anderer Staatsangehöriger nach Deutschland in das wesentlich knappere Kapitel "Exil und Asyl" ausgelagert wird. Dieses für die Geschichte der Bundesrepublik wichtige Thema - immerhin stellten hier mehrere Millionen Migranten einen Antrag auf Asyl - wird auf knapp einer Seite mit Bezug auf einige wenige Titel abgehandelt.

Abgesehen von dieser thematischen Engführung vollzieht der Literaturbericht die Entwicklung der Forschung zu den einzelnen Themenbereichen souverän nach. Hier zeigt sich eine grundsätzliche Stärke der beschriebenen thematischen Unterteilung in Einzelaspekte, da Oltmer die durchaus unterschiedliche Eigendynamik dieser Forschungsfelder aufzeigt. Auch Forschungsdesiderate - meist fehlt es an internationalen Vergleichen - werden klar benannt.

Die von Oltmer vorgelegte Monografie füllt die bisher bestehende Lücke einer Einführung in die historische Migrationsforschung. Aufgrund der sehr strukturierten Darstellung und ihrer guten Lesbarkeit ist sie dazu geeignet, Studierende mit diesem teilweise doch etwas verwirrend anmutenden Forschungsfeld - insbesondere zum 19. Jahrhundert - vertraut zu machen.

Jenny Pleinen