Rezension über:

Johann Kirchinger / Ernst Schütz (Hgg.): Georg Ratzinger (1844-1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge, Regensburg: Schnell & Steiner 2008, 400 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-2015-4, EUR 34,90
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Rezension von:
Oliver Braun
Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Braun: Rezension von: Johann Kirchinger / Ernst Schütz (Hgg.): Georg Ratzinger (1844-1899). Ein Leben zwischen Politik, Geschichte und Seelsorge, Regensburg: Schnell & Steiner 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/17911.html


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Johann Kirchinger / Ernst Schütz (Hgg.): Georg Ratzinger (1844-1899)

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Die Publikation eines biografischen Sammelbandes über einen nahen Verwandten des derzeitigen, aus Bayern stammenden Papstes mag in gewisser Hinsicht als wissenschaftliches Wagnis erscheinen - zu sehr mag sich hier gleichsam eine gefühlte Nähe zur aktuellen Flut von Ratzinger-Biografien einstellen. So fehlt denn auch in keinem der Beiträge des vorliegend zu besprechenden Bandes die Bezugnahme auf die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Benedikt XVI. und seinem Großonkel, dem katholischen Geistlichen, Publizisten und Politiker Georg Ratzinger, und für genealogisch interessierte Leser bietet ein Beitrag von Herbert H. Wurster eine knappe Geschichte und Ahnenreihe der Familie Ratzinger. In erster Linie jedoch würdigt das Werk, das die Ergebnisse einer Tagung an der Universität Regensburg vom Februar 2008 präsentiert, einen ebenso prominenten wie umstrittenen Repräsentanten des politischen Katholizismus im Bayern des 19. Jahrhunderts.

Georg Ratzinger wurde 1844 im niederbayerischen Rickering als Sohn eines Bauern geboren. Als siebtes Kind von insgesamt zehn Geschwistern und dritter Sohn in der Erbfolge schien dem jungen Georg Ratzinger mit seinem früh ausgeprägten scharfen Intellekt, aber zeit seines Lebens von schwacher physischer Kondition, eine geistliche Karriere vorbestimmt. Auf die Lateinschule und das Gymnasium in Passau folgte das Theologiestudium als Stipendiat des Herzoglichen Gregorianums an der Ludwig-Maximilians-Universität, das Ratzinger im Jahre 1869, zwei Jahre nach seiner Priesterweihe, mit einer Promotion bei dem Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger über die "Geschichte der kirchlichen Armenpflege" abschloss. Anschließend findet sich bei Ratzinger, wie man heute sagen würde, eine Erwerbsbiografie, die - wohlwollend ausgedrückt - von Flexibilität und Vielseitigkeit, tatsächlich aber von höchster Unregelmäßigkeit und einer geradezu erratischen Sprunghaftigkeit geprägt war: Er hatte bereits 1868 die Chefredaktion des "Münchener Wochenblattes für das katholische Volk", später die des Würzburger "Fränkischen Volksblattes" übernommen, es folgten verschiedene, niemals längerfristige Stationen auf Priesterstellen, dann wieder journalistische Tätigkeiten, schließlich der Eintritt in die Politik und die Wahl zum bayerischen Landtagsabgeordneten (1875-1877/78) für die Bayerische Patriotenpartei sowie zum Reichstagsabgeordneten (1877/78) für das Zentrum. Nach langwierigen juristischen Auseinandersetzungen um ein vermeintliches Sittlichkeitsdelikt zog Ratzinger sich aus der politischen Arena zurück und widmete sich wieder der Seelsorge und der wissenschaftlichen Arbeit. Zu Beginn der 1890er-Jahre dann wandte sich Ratzinger dem im Entstehen begriffenen Bayerischen Bauernbund zu, für den er 1893 in den Bayerischen Landtag gewählt wurde, trat bereits 1894 aber aus dem Bauernbund aus und wirkte bis zu seinem Tode 1899 als freier Abgeordneter; auch in den Reichstag wurde er 1899 nochmals hineingewählt.

Ratzingers rastlosem und vielschichtigen Lebenslauf entsprechend nähern sich die Autoren des Sammelbandes ihrem Sujet von den verschiedensten Seiten. Gewürdigt werden u.a. der stets zwischen seelsorgerischem Pflichtgefühl und politischem Sendungsbewusstsein hin- und hergerissene Geistliche (Tobias Appl) oder der früh vom bayerisch-patriotischen Ludwig Graf Arco-Zinneberg nachhaltig geförderte ultramontane Publizist und antiliberale Parlamentarier, dessen Aktivitäten sowohl von der Kirche wie der Staatsmacht misstrauisch beobachtet wurden (Freya Amann). Beleuchtet wird der Historiker und Theologe, der, stramm antipreußisch und kleindeutsch gesonnen, sich für eine Stärkung der bayerischen Landesgeschichtsforschung einsetzte und dessen wissenschaftliches Œuvre methodisch zwischen dem historisch-kritischen Ansatz und einer strikt dem katholischen Weltbild und Geschichtsauffassung verpflichteten theologischen Apologetik oszillierte (Johann Bauer, Ernst Schütz, Malte Langenbach). Als Nationalökonom und Wirtschaftstheoretiker stellte sich Ratzinger der durch den rasant beschleunigten Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts immer dringlicheren soziale Frage. Im Rückgriff auf die katholische Naturrechtslehre und berufsständische Ideen der katholischen Soziallehre, bemerkenswerterweise allerdings auch mit Anleihen bei Karl Marx, legte er vor allem mit seiner Schrift "Die Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen" (1881) und dem Agrarprogramm "Die Erhaltung des Bauernstandes" (1883) zwei Werke vor, die teilweise noch bis nach 1945 in das erste agrarpolitische Programm des Bayerischen Bauernverbandes nachwirkten. Und auch das von Ratzinger entwickelte agrarökonomische Konzept des "gerechten Preises" (Johann Kirchinger, Frank E.W. Zschaler) scheint etwa in den heutigen Diskussionen um das landwirtschaftliche Preisgefüge wieder an Aktualität zu gewinnen. Schließlich, dies behandelt Manfred Eder im umfassendsten Beitrag des Bandes, offenbarte sich Ratzinger in seinen journalistischen wie wissenschaftlichen Publikationen als grimmiger Antisemit, der hemmungslos und zum Teil als platter Plagiator antisemitischen Schrifttums (261f.) die Klaviatur sämtlicher judenfeindlicher Klischees bediente und nachdrücklich für ein Zuwanderungsverbot für Juden und deren Zurückdrängung aus herausgehobenen Positionen des öffentlichen Lebens plädierte. Zwar bewegte sich Ratzinger, wie Eder betont (278), mit seinem antijüdischen Äußerungen im Rahmen eines gängigen katholischen Antisemitismus insofern, als seine Judenfeindschaft religiös und geschichtlich-weltanschaulich und nicht auf rassischen Prinzipien begründet war - mit seiner Radikalität aber muss Ratzingers Antisemitismus als durchaus exponiert von der zeitgenössischen katholischen Judenfeindschaft bezeichnet werden.

Die Einzelbeiträge des Bandes zeichnen in der Summe das Portrait einer sperrigen und widersprüchlichen Persönlichkeit, die von nagendem Ehrgeiz und von einer nachgerade selbstzerstörerischen Rastlosigkeit und Arbeitswut geprägt war. Ratzinger war ein scharfzüngiger Journalist und Rezensent, dessen publizistische Angriffslust auch vor seinem akademischen Lehrer Döllinger oder dem großen Nationalökonom Lujo v. Brentano nicht haltmachte, dabei aber selbst überaus empfindlich und nachtragend. Seine Nonkonformität und sein undiplomatisches Wesen hatten Ratzinger letztendlich sowohl den Aufstieg innerhalb der Kirche, der Wissenschaft wie auch in der Politik verwehrt.

Darüber hinaus und vor allem aber stellt das Buch einen gewichtigen Mosaikstein für die bayerische Landesgeschichtsschreibung über das 19. Jahrhundert dar - und zwar nicht nur auf der individualbiografischen Ebene, als Würdigung eines prominenten Vertreters des ultramontanen politischen Katholizismus in Bayern, sondern der Sammelband beleuchtet unter anderem auch neue Aspekte der bayerischen Wissenschaftsgeschichte, der Perzeption der katholischen Sozialethik in Bayern oder er liefert im Detail weiterführende Erkenntnisse zur Geschichte und Programmatik des Bayerischen Bauernbundes. Die Einzelbeiträge werden sinnvoll ergänzt durch einen Abbildungsteil, eine hilfreiche Zeittafel, ein umfassendes Werkverzeichnis von und über Ratzinger sowie durch den Abdruck einiger ausgewählter Korrespondenzen.

Abschließend kritisch anzumerken bleibt einzig - und dies führt zurück zur einleitenden Bemerkung - das Bemühen um eine wohlwollende Würdigung Ratzingers, das die meisten Beiträge des Bandes gleichsam subkutan, aber doch sehr ersichtlich durchzieht. Hier ergibt sich oftmals ein auffälliges und widersprüchliches Spannungsverhältnis zu den gebotenen Informationen zur Person und zum Wirken Ratzingers. Mehr Mut zum prägnanten historischen Urteil wäre durchaus wünschenswert gewesen.

Oliver Braun