Kees Somer: The Functional City. The CIAM and Cornelis van Eesteren, 1928-1960, Rotterdam: NAi Uitgevers 2007, 271 S., zahlreiche Farb- und s/w-Abb., ISBN 978-90-5662-576-4, EUR 59,90
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Kees Somers Studie über den niederländischen Stadtplaner und Architekten Cornelis van Eesteren (1897-1988) und die Congrès Internationaux d'Architecture Modern (CIAM) beginnt mit einem visuellen Erlebnis. Eindringlich schildert der im Ganzen reich und überzeugend illustrierte Band die CIAM-Ausstellung zur Funktionellen Stadt im Jahr 1935 in Amsterdam. Die Ausstellung informierte über das ideale städtische Leben in einem äußerst umfassenden Sinne, sie dokumentierte den 'Ist-Zustand', vor allem aber war sie, wie Somer herausstellt, ein propagandistisches Unterfangen, das die Ergebnisse eines Fachdiskurses einer breiten Öffentlichkeit vermitteln wollte und die Gestaltung der Zukunft beanspruchte.Während die CIAM und die Diskussion um die Funktionelle Stadt schon häufig - wenn auch selten in der hier anzutreffenden Tiefe - untersucht wurden, ist der für CIAM-Organisation und stadtplanerische Diskussion ganz entscheidende van Eesteren in Deutschland - abgesehen von einer einschlägigen Textsammlung von Franziska Bollerey - kaum bekannt, sondern steht vollständig im Schatten Le Corbusiers.
Van Eesteren ist allerdings nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, wegen seiner Rolle in der CIAM bedeutsam, sondern als eine ungemein einflussreiche Figur an der Schnittstelle zwischen Architektur und Stadtplanung. Somer schreibt, aufbauend auf den Nachlass van Eesterens und unter Verwendung zahlreicher neu erschlossener Quellen, keine Biographie im eigentlichen Sinne, sondern eine an van Eesterens Biographie orientierte Teilgeschichte der CIAM. Fünf Perspektiven, die grob der chronologischen Entwicklung der CIAM folgen, aber immer an bestimmten Fragestellungen orientiert sind, strukturieren die Arbeit: Die frühen CIAM-Jahre unter den Schlagworten Wohnung für das Existenzminimum und Avantgarde, das kollektive Arbeiten innerhalb der CIAM, die Vorbereitungen für den vierten Kongress zur Funktionellen Stadt, die vergleichende Stadtplanung, sowie ein abschließendes Kapitel zu den Grenzen des kollektiven Arbeitens in der CIAM nach 1945.
Somer kommt gegenüber der bisherigen Forschung zur CIAM - zu nennen ist hier insbesondere die Studie von Eric Mumford - zu einer ganzen Reihe von Neubewertungen, neuen Akzentsetzungen, gelangt durch seinen Fokus auf van Eesteren aber auch zu einer bisher kaum untersuchten Ebene. Er charakterisiert die CIAM als eine spezifische Organisation, die sich als künstlerisch-ästhetische Avantgarde begriff, sich aber gleichzeitig praktischen und gesellschaftspolitischen Fragen verschrieb. Der kollektive Organisationsmodus war für das Selbstverständnis der CIAM als "effizienter Waffe gegen die Reaktion" (Sigfried Giedion) essentiell. Gleichwohl blieb das Ziel einer sich jenseits nationaler Bezugsräume konstituierenden Organisation, wie es etwa der Architekt Mart Stam verfolgte, unvollendet. Van Eesteren, von 1930 bis 1947 Präsident der CIAM, hatte, in der Regel mit Rückendeckung des Generalsekretärs der CIAM Sigfried Giedion, zwischen den oft eigenmächtigen Vorgaben der CIAM-Granden wie Le Corbusier und den teils sehr aktiven Landesgruppen zu vermitteln.
Somer kann zeigen, dass bei allen Weichenstellungen der CIAM van Eesteren eine Schlüsselposition einnahm, sei es als pragmatischer Vermittler, sei es durch die Umsetzung eigener Überzeugungen oder durch seine herausragende Kenntnis der Materie. Das Denken im Kollektiv bestimmte für van Eesteren - weit mehr als für Le Corbusier - nicht nur die Organisation, sondern war auch Leitvorstellung der von ihm verantworteten stadtplanerischen Entwürfe. Hiervon ausgehend propagierte van Eesteren die Zusammenarbeit der in der CIAM zusammengeschlossenen Architekten mit Experten der unterschiedlichsten Lebensbereiche, insbesondere zur Gewinnung der für die weitreichenden Planungen benötigten statistischen Daten. Dabei konnte er auf die Effektivität der von ihm geleiteten niederländischen Gruppe bauen. Insofern war, wie Somer eindringlich nachweist, insbesondere van Eesteren für den integralen Ansatz der CIAM, deren Ausrichtung auf soziale Fragen, aber auch für deren Wissenstransferfunktion verantwortlich. Dies diente nicht zuletzt, von van Eesteren gefördert, der Abgrenzung der neuen Organisation gegenüber den etablierten älteren Organisationen im Feld.
Van Eesteren vereinte durch seine Biographie die hierfür nötigen Voraussetzungen. Bereits 1922 Stipendiat des Prix-de-Rome, baute er sich früh ein internationales Netzwerk mit zahlreichen Kontakten zur Avantgarde, zur de Stijl-Bewegung und zum Bauhaus auf. Im Jahr 1925 gewann er den ersten Preis im Berliner Wettbewerb zur Umgestaltung der Allee 'Unter den Linden'. Ab dem Jahr 1929 machte van Eesteren rasch Karriere in der Amsterdamer Stadtplanungsbehörde.
Mit der Verbindung von Avantgardeanspruch und praktischer Erfahrung in der Stadtplanung prägte van Eesteren die erfolgreichste CIAM-Phase in der ersten Hälfte der 1930er Jahre, die unter dem Thema Funktionelle Stadt stand. Hier kam die durch seine Amsterdamer Tätigkeit erworbene breite statistische Basis ebenso zum Tragen wie die innerhalb der CIAM von van Eesteren vorangetriebenen Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Kategorien und der Darstellungsformen, die einen systematischen Vergleich von Städten ermöglichen sollten. Hierfür steht exemplarisch die Zusammenarbeit mit dem Zeichensystempionier Otto Neurath.
Van Eesteren stand somit, auch über seine Arbeit in der CIAM hinaus, für einen ganzheitlichen Ansatz einer Stadtplanung, die er weit über ihr ursprüngliches Feld hinaus und vor allem aber als eine "vorhersehende Disziplin" (72) dachte. Stadtplanung sollte, so van Eesteren, eine "Synthese des organisierten Lebens und der Technologie liefern" und reichte somit per se über den jeweils behandelten Ort hinaus. Zugespitzt formulierte van Eesteren, dass sich durch Anwendung eines stark synthetisierten Regelsets innerhalb kürzester Zeit für jeden Ort eine optimale städtebauliche Lösung finden lasse ("Fünf Minuten Städtebau").
Somer zeigt aber auch, dass das Erfolgsrezept der ersten Hälfte der 1930er Jahre bereits auf dem fünften CIAM-Kongress, 1937 in Paris zum Thema Arbeit und Erholung, nicht mehr funktionierte und dann auf den Nachkriegskongressen an ganz unterschiedlichen Ansprüchen scheiterte. Obwohl mit dem Wiederaufbau noch einmal ein Thema ins Zentrum rückte, für das die CIAM als Organisation, die sich schon immer als Antwort auf die großen Krisen der Menschheit verstanden hatte, prädestiniert schien, konnte die CIAM nie wieder an die Intensität der Zusammenarbeit der Vorkriegsjahre anknüpfen. Das Auseinanderbrechen des effizienten Duos Giedion-van Eesteren, und nicht zuletzt auch starke generationelle Unterschiede führten schließlich 1959 zur Auflösung der Organisation.
Somer vermag in überzeugender Weise van Eesteren als eine der Schlüsselfiguren der modernen Architekturbewegung in Erinnerung zu rufen bzw. überhaupt erst zu etablieren. Der Band überzeugt zum einen durch die teilweise sehr detaillierte Wiedergabe der Diskussionsstränge und persönlichen Animositäten im Vorfeld und auf den CIAM-Kongressen. Zum anderen besitzt Somer ein genaues Gespür für die Relevanz der jeweils diskutierten Themen bzw. Neuerungen in der Organisationsform CIAM, die weit über die Architektur hinausweisen. Damit liefert der Band deutlich mehr als der Titel verspricht: einen wichtigen Beitrag zur Geschichte internationaler professioneller Organisationen im 20. Jahrhundert und einen Beitrag zur Durchsetzung der Moderne im weitesten Sinne.
Martin Kohlrausch