Claude Keisch / Marie Ursula Riemann-Reyher (Hgg.): Adolph Menzel. Briefe (= Quellen zur deutschen Kunstgeschichte vom Klassizismus bis zur Gegenwart; Bd. 6), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, 1783 S., Band 1: 1830 - 1855. Band 2: 1856 - 1880. Band 3: 1881 - 1905. Band 4: Verzeichnisse, ISBN 978-3-422-06740-0, EUR 148,00
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Künstlerbriefe des 19. Jahrhunderts sind en masse überliefert. Selten aber - und selbst Vincent van Gogh macht da kaum eine Ausnahme - wurden sie mit einem solch geradezu enzyklopädischen Anspruch und mit einer derartigen "Perfektionswut" ediert wie in dem hier anzuzeigenden Fall. Die Briefe Adolph Menzels (1815-1905), welche chronologisch noch im Zeitalter der Restauration einsetzen und sich bis ins 20. Jahrhundert hinein erstrecken, liegen jetzt, fast ein Jahrhundert nach dem ersten Versuch einer Gesamtausgabe [1], in einer monumentalen Zusammenstellung vor. Sie umfasst vier Bände und fast 1800 Seiten. Kaum vorstellbar ist die herkulische Leistung der Herausgeber Marie Riemann-Reyher und Claude Keisch, die dieses Unternehmen in jahrzehntelanger Arbeit unter Mitwirkung von Brita Reichert und Kerstin Bütow geschultert haben. Letzterer, die in fast noch jugendlichem Alter gestorben ist und so etwas wie die Seele des Unternehmens gewesen zu sein scheint, wird in bewegender Weise gedacht.
Gründe für die Schwierigkeit einer solchen Ausgabe lassen sich viele erwähnen, das geht schon bei der - vorsichtig formuliert - eigenartigen Schrift des Künstlers los, die auch von den Zeitgenossen moniert wurde (18). Hinzu kommt die Zersplitterung des Bestandes in privaten und öffentlichen Sammlungen, die gegenüber anderen Fällen nichts Besonderes sein mag, durch die Folgen des 2. Weltkrieges und den Abtransport archivalischer Bestände nach Osteuropa aber noch verschärft wurde. Daneben ist es der teilweise dürftige oder nur noch sekundär bzw. in Kopie überlieferte Originalbestand, der die Herausgeber zu sehr differenzierten Bewertungen zwang. Besonders problematisch ist die Lage bei den an Menzel gerichteten Briefen, da dessen Nachlassverwalter überaus schludrig mit dem Material umgegangen sind (50).
Die Spannweite von Menzels sprachlicher Ausdruckskraft mag nur denjenigen überraschen, der mit dem Künstler auch heute noch in erster Linie den preußischen Glorienmaler und disziplinierten Zeichner erblickt. Einerseits von unerbittlicher Strenge, wenn es um die Durchsetzung eigener künstlerischer Ziele ging (siehe seine berühmten Verrisse der Holzstecherleistungen anlässlich der Illustrationen zu Franz Kuglers "Geschichte Friedrichs des Großen"), kann Menzel bis hin zur Narretei überbordend werden, wenn er sich an Vertraute aus dem engeren Umkreis wendet. Weithin mäandrierende Satzungetüme mit skurrilen Pointen, hervorgehoben durch riesige Buchstaben und kaskadierende Satzzeichen sind keine Seltenheit, all diese teilweise auch nur visuell zu erfassenden Aspekte (und natürlich die sporadisch auftauchenden Briefillustrationen) sind in der Edition durch ausgeklügelte Zeichenkonventionen berücksichtigt, die in der editorischen Nachbemerkung (1407ff.) wiederum selber fast skurril akribisch aufgeführt werden. Diese editorische Nachbemerkung leitet einen Verzeichnisband ein, der selber alleine an die 400 Seiten lang geworden ist. Er verzeichnet Adressaten wie Absender (denn auch eine Reihe von Briefen an Menzel ist abgedruckt), er bringt ein über 10 Seiten langes Literaturverzeichnis, in dem wohlgemerkt nur briefrelevante Literatur aufgeführt ist, und er führt im umfangreichsten Teil die Briefe katalogartig und mit Metadaten versehen noch einmal auf, deren Anzahl im Übrigen gegenüber der erwähnten Ausgabe von 1914 glatt auf das 10-Fache angestiegen ist (wobei allerdings die an den Künstler gerichteten Briefe mitgezählt sind.).
So umfangreich und überaus detailliert erarbeitet diese monumentale Briefsammlung ist, sie wird zwangsläufig das gleiche Schicksal erleiden wie alle anderen vergleichbaren Editionen ebenfalls. Sie wird veralten, weil man neue Briefe in osteuropäischen Museen, versteckten Privatsammlungen oder auf dem Autografenmarkt entdeckt. Daher erneut die Frage, ob das gewählte Medium heutzutage noch geeignet erscheint: Online könnte man bequem Neuentdeckungen ergänzen, im Buch geht das natürlich nicht. An dieser Stelle unterscheidet sich das Unternehmen, vor dessen atemberaubender Präzision und Gediegenheit man ansonsten nur den Hut ziehen kann, übrigens auch von der Entsprechung bei van Gogh. Von diesem nämlich gibt es eine vorbildliche digitale Edition. Supplementbände werden bei Menzel hinzu kommen müssen, Supplementbände von Supplementbänden etc. pp. Zu schlechter letzt dann ein Registerband, der die ganzen Supplementbände supplementiert. Übersichtlich ist das nicht - einmal abgesehen davon, dass es angesichts des zu leistenden Aufwandes auch gar nicht wahrscheinlich ist. Übrigens macht Keisch auf diesen Tatbestand selber aufmerksam, wenn er formuliert (48, ähnlich auch 57), dass von den ca. 1000 in Privatbesitz befindlichen Briefen nur ca. 15% in nachweisbaren Sammlungen aufbewahrt werden, und dass davon jährlich "ein halbes Dutzend oder mehr [...] in deutschen Autografenauktionen aus dem Schatten" treten. Schlussendlich wird zwecks Neuausgabe wieder die arme DFG angegangen - oder eben Gerda Henkel, die dankenswerterweise den "beachtlichen Druckkostenzuschuss anbahnte" (man ahnt, was das heißt, auch wenn mir "Anbahnung" hier ein irreführender Begriff zu sein scheint). Das ist dann eine typisch deutsche wissenschaftliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, der man klügere Projekte entgegenhalten könnte. Aber was soll's. Jeder Menzel-Verehrer wird sich freuen, in den vorliegenden Bänden schmökern zu können. Und im Übrigen jeder, der sich für eine zentrale Figur des europäischen Kunstlebens im 19. Jahrhundert interessiert.
Anmerkung:
[1] Hans Wolff: Adolph von Menzels Briefe, Berlin 1914.
Hubertus Kohle