Junge arabische Filmemacher und ihre Auseinandersetzung mit europäischer Kriegsgeschichte. Zwei Beiträge aus der Reihe "Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" während der 26. Französischen Filmtage in Tübingen-Stuttgart

Von Assia Maria Harwazinski


Beispielhaft für die kritischen Arbeiten junger arabischer Filmemacher [1] seien hier zwei Filme beschrieben, die sich intensiv der historischen Verquickung mit Deutschland und dem Faschismus im Zweiten Weltkrieg widmen, doch dabei sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Inhalte haben: "Le chant des mariées" (Das Hochzeitslied) von Karin Albou und "Indigènes" (Eingeborene) von Rachid Bouchareb.

"Le chant des mariées" (Frankreich 2008) schildert in einfühlsamen und außergewöhnlich intimen Bildern die enge Freundschaft zweier sechzehnjähriger Mädchen, die heiraten sollen, einer Muslimin, Nour, und einer Jüdin, Myriam. Die Geschichte spielt in Tunis im Jahr 1942, als deutsche Soldaten einmarschieren und mit den Muslimen gegen die französische Kolonialmacht kollaborieren. Während Nour bereits mit Khaled verlobt ist, der jedoch keine Arbeit findet, was die Hochzeit verzögert, träumt Myriam von einem arabischen Prinzen, soll aber zur eigenen Rettung aus der Armut von ihrer Mutter (gespielt von Karin Albou selbst) an einen reichen jüdischen Arzt verheiratet werden. Die Mädchen erzählen sich gegenseitig ihre Träume, Sehnsüchte, Erlebnisse und gehen gemeinsam ins Hammam (orientalisches Bad) - einem Ort, an dem arabische Frauen unter sich sind. Die intimen Aufnahmen von beinahe nackten Frauen aller Altersgruppen in einem Hammam beim Waschen hat bereits in früheren arabischen Filmen (wie "Halfaouine " von Férid Boughedir, minimale Szenen in " Bab el-Oued City " von Merzak Allouache und "Caramel" von Nadine Labaki) beeindruckt, da sie Einblicke in eine Lebenswelt geben, die weitgehend unbekannt und verschlossen ist und traditionell in den Privatbereich gehört. Ebenso gilt dies für die Hochzeitsvorbereitungen junger Frauen, denen traditionell arabisch die Schamhaare mit warmem Caramel entfernt werden, einer schmerzhaften Prozedur, die die "Reinheit" der Mädchen unterstreichen soll; sie werden kosmetisch zur Kindfrau gemacht. Als die Nazis im November 1942 Tunis besetzen, wird die jüdische Bevölkerung gezwungen, ein hohes Bußgeld an die Verwaltung zu bezahlen, das sich Myriams Mutter nicht leisten kann; dadurch wird der Druck auf die Verheiratung mit einem, sich bereits interessierenden, reichen Mann erhöht. Khaled dagegen bekommt von den Deutschen eine Arbeit, und wendet sich zusehends gegen die enge Freundschaft seiner muslimischen Braut mit dem jüdischen Mädchen. Um die Bevölkerung aufzustacheln, lassen die Deutschen Flugblätter über Tunis abwerfen, mit der Botschaft, sie würden mit der Bevölkerung gemeinsam gegen die Feinde der Muslime - Franzosen und Juden - kämpfen, um sie und den Rest der Welt vom "Weltjudentum" zu befreien. Diese Haltung gefährdet die Beziehung zwischen den jungen Frauen wie auch zwischen dem Paar Nour und Khaled. Er sucht nach Koranstellen, die die Feindschaft zwischen Muslimen und Andersgläubigen untermauern, Nours Vater dagegen zeigt ihr Stellen im Heiligen Buch, die das friedliche Zusammenleben und die Gleichwertigkeit der monotheistischen Glaubensgemeinschaften bezeugen. Nour hält unter diesen schwierigen Bedingungen wankelmütig, aber innerlich fest zu ihrer Freundin, die sich am Ende zu ihrem zunächst abgelehnten Ehepartner bekennt - letztendlich, um zu überleben.

Die in Paris lebende Regisseurin Karin Albou hat ihre Geschichte bewusst im Zweiten Weltkrieg angesiedelt, da es sich um einen unbekannten historischen Zeitpunkt handelt, dessen Mehrdeutigkeit und Unebenheiten im Kino bisher nicht behandelt wurden, sondern lediglich in der Literatur. Ihr geht es um die Aufarbeitung dieser Unebenheiten und schwierigen Belastungen ausgesetzter Freundschaft. Sie studiert Theater, Tanz, Hebräisch, französische und arabische Literatur und hat eigenwillige Stilmittel eingesetzt: Der Vorspann zum Film beginnt im Quartier Latin in Paris, die Regisseurin gibt vor der Kamera die Einführung in den Film. Als unerwartete musikalische Untermalung hat sie in besonders brüchigen, schmerzhaften Kriegsszenen das Lied "Naturträne" der in klassischem Opern- und Ariengesang ausgebildeten deutschen Punkrockerin Nina Hagen eingeflochten, die in jungen Jahren mit ihrer großartigen Stimmgewalt und eigenen gesellschaftskritischen Texten mit Mitgliedern der Band Spliff beeindruckte und provozierte. Nahaufnahmen der ausdruckstarken Gesichter während der kosmetischen Hochzeitsvorbereitungen, während des vorehelichen heimlichen Liebesspiels von Nour und Khaled und dem souveränen, beinahe wortlosen Vertuschen der offiziell erwarteten, aber nicht mehr vorhandenen Jungfräulichkeit der Braut durch das Blut einer kleinen Wunde am Fuß auf dem Laken, die Entkleidung der ängstlich-widerwilligen, völlig unbehaarten jüdischen Braut, deren Ehemann sie aus weißer Spitze schält, unterstreichen die außergewöhnliche Intimität der Beziehungen und der inneren Thematik. Karin Albou lernt und arbeitet neben dem Studium an der école de Cinéma in Paris. "Le chant des mariées" ist ihre vierte Regie-Arbeit. Der Film wurde mit Hilfe des bedeutendsten Förderers nordafrikanisch-arabischen Kinos gedreht, dem früheren Schirmherrn der Filmfestspiele von Karthago/Tunesien, Ahmet Attia, der während der Fertigstellung gestorben ist.

Ein markanter Vertreter des jungen algerisch-französischen Kinos ist Rachid Bouchareb, französischer Staatsbürger, der 2009 auf den 26. Französischen Filmtagen mit seinem Werk "Indigènes" (2006) vertreten war, einem der seltenen Fälle, wo afrikanisch-arabisches Kino bereits auf DVD im Handel zu haben ist. "Indigènes" (Eingeborene; offizieller Filmtitel der deutschen Fassung: "Tage des Ruhms") erreichte eine Einschaltquote von 20 Prozent im französischen Fernsehen und löste eine landesweite Diskussion über den Umgang mit afrikanischen Soldaten in der französischen Armee aus. Der sehr harte Film wurde äußerst nah an der Realität gedreht und hat in Cannes 2006 den Preis für den besten männlichen Darsteller erhalten, den sich hier kollektiv fünf Schauspieler teilen (Jamel Debbouze, Samy Naceri, Roschdy Zem, Sami Bouajila, Bernard Blancan). Bouchareb bewegt sich in Thematik, Art der Darstellung und "Botschaft" in der Tradition anspruchsvoller amerikanischer Anti-Vietnamkriegs-Filme wie "Good Morning Vietnam", "Apokalypse Now" und "Deer Hunter". Bereits in den neunziger Jahren durch die spröde Verfilmung eines vietnamesischen Kriegstagebuchs mit "Poussières de Vie" gezeigt, dass er nicht nur den Umgang mit der Thematik ausgezeichnet beherrscht, sondern ein Kriegsgegner ist. Herausragend ist seine Kameraführung (Patrick Boussier): Bouchareb inszeniert makellos und virtuos, er zeigt die Grausamkeit der Kämpfe ungeschönt und verbleibt zart auf den Gesichtern, wenn sie am meisten berühren und Emotionen zeigen. Mit dieser Art von Kameraführung und filmischer Interpretation erreicht er die Qualität des alten deutschen Meisterwerks und Anti-Kriegsfilms "Die Brücke" von Bernhard Wicki von 1959 (mit Cordula Trantow und Volker Lechtenbrink).

Der Film, eine versöhnliche algerisch-französisch-marokkanische Co-Produktion, beginnt bei Kriegshandlungen der französischen Armee gegen die Deutschen in Italien. Vier junge Nordafrikaner sind dem französischen Heer beigetreten, wie 130.000 weitere, um ihr geliebtes Vaterland Frankreich zu befreien, das mit der französischen Nationalhymne in den Pausen im Lager besungen wird. Beim ersten Kampf auf italienischem Boden merken sie jedoch, dass sie von den Franzosen als Kanonenfutter benutzt werden, um gegnerisches Feuer aufzuspüren. Die Diskriminierung hat viele Facetten: Afrikanern in der Armee werden beispielsweise die frischen Tomaten in der Kantine verwehrt, die nur an (weiße) Franzosen ausgegeben werden, aber nicht an die "bougnouls".[2] Dagegen bäumt sich ein algerischer Corporal auf: Er zertritt sämtliche Tomaten in der Kiste mit den Füßen, sodass sie keinem mehr zugute kommen. Damit hat er die Verhältnisse geklärt. Er wird am Ende der einzige Überlebende sein. Bouchareb zeigt die weiteren Diskriminierungen: Als die Soldaten heldenhaft Marseille befreien, liegen ihnen auch einige französische Frauen zu Füßen. Die Beziehungen werden dadurch unterbrochen, dass die jeweils geschickten Liebesbriefe von der Kommandantur nicht weitergeleitet werden. Eine sehr dezimierte Truppe erreicht schließlich das Elsass, um dort in einem Fachwerk-Dorf die letzte Schlacht gegen die deutsche Wehrmacht aufzunehmen. Den Schluss bildet ein Ritual der Erinnerung: Der letzte Überlebende - der Corporal, der sich frühzeitig gegen französische Schikanen auflehnte - kommt nach sechzig Jahren als alter ergrauter Mann zurück ins Elsass, um dort die Gräber seiner verlorenen Kameraden auf dem Soldatenfriedhof zu besuchen.

Die einzige kleine Ironie im Film ist eine Anspielung auf nicht ausgelebte Sexualität unter Soldaten, als der aus ärmsten Verhältnissen stammende junge Militär von den Kollegen als "unsere kleine Aicha" bezeichnet wird, wogegen er sich, hochgradig beleidigt, bis aufs Messer wehrt und einem anderen Soldaten beinahe die Kehle durchschneidet. Die Situation wird vom die Nerven behaltenden Corporal entschärft. Eine besonders grotesk erscheinende Szene ist ein Unterhaltungsabend während einer Gefechtspause: Hier wird den müden, von Angst, Kampf und Hunger gezeichneten Soldaten zur Erholung auf einer provisorischen Bühne im Militärzelt eine äußerst manierierte Version von Tschaikowsky's "Schwanensee" von Ballett-Tänzerinnen in klassischen weißen Tutus vorgeführt. Die arabischen Soldaten können mit dem getrippelten Spitzentanz nicht viel anfangen und verlassen gelangweilt die Veranstaltung.

Die Musik des Films [3], arabischer Trauergesang, stammt von Armand Amar und dem Raiy-Sänger Khaled, der international durch sein Lied "Aicha" berühmt wurde. Bouchareb hat für "Indigènes", neben dem oben erwähnten Preis aus Cannes, 2007 den César für das beste Drehbuch erhalten.

In beiden Fällen - "Le chant des mariées" und "Indigènes" - beeindruckt der souveräne, reduzierte Einsatz religiöser Riten, wie den Tag strukturierende Gebete, Ritualgebete bei Festen und Todesfällen, zur Trauerverarbeitung und individuellen psychischen Stärkung, die sich fundamentalistischer Religionsinterpretation entziehen und dadurch widersetzen. Ebenso werden der sinnliche Genuss und die filmische Qualität durch das Belassen der Originalsprachen (Arabisch-Berberisch, Hebräisch, Französisch im Wechsel) und den Einsatz von Untertiteln (Französisch, Englisch) erhöht.

Die Reihe "Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" während des Filmfestivals 2009 im November wurde durch eine speziell dafür erarbeitete Ausstellung begleitet, für die Kölner Journalisten unter der Leitung von Karl Rössel jahrelang recherchiert haben. Hier wurde ein weiterer Film von Rachid Bouchareb gezeigt: "L'ami y'a bon" ("Der Freund aus den Kolonien"/2004), ein experimenteller Kurzfilm, in dem in bewegten Zeichnungen ein Mann seine Geschichte als kenianischer Soldat in der französischen Armee in Burma erzählt und Szenen aus dem senegalesischen "Camp de Thiaroye"[4] mit solchen aus dem Elsass zu einer Collage kombiniert werden. Er hat nie im Leben von der französischen Regierung seine Pension erhalten und vollkommen verarmt sein Leben gefristet. Die durch die BRD tourende Wanderausstellung dokumentierte sämtliche, weitgehend unbekannte, bisher verschwiegene Kriegsverbrechen in der Dritten Welt während des Zweiten Weltkriegs, von Afrika über Korea und Japan bis nach Polynesien anhand von bebilderten Wandtafeln mit Erklärungen und Filmdokumenten, Hörstationen und Begleitbroschüren - von alltäglichem Rassismus über Massenvergewaltigungen bis zur Vorenthaltung der Pensionsleistungen.

Anmerkungen:

[1] Die Bezeichnung "arabisch" steht hier auch für arabisch-stämmige Filmemacher mit französischem Pass, die jedoch aus Einwandererfamilien stammen und gemeinhin heute als "boeur" bezeichnet werden.

[2] Abwertende französische Bezeichnung für Araber.

[3] Eine davon spielt das Lied "Hady Bah" der aus den Vororten Straßburg stammenden französischen HipHop-Theatergruppe "Mémoires Vives" ab, die sich aus Jugendlichen aus Einwanderer-Familien zusammensetzt.

[4] Ousmane Sembène hat 1988 einen gleichnamigen Film zu dieser lange Zeit ignorierten Episode der Geschichte gedreht. Hierzu: A. M. Harwazinski: Filmemachen in Schwarzafrika: Die Eroberung des eigenen Blicks durch das Erzählen von Geschichten mit der Kamera, in: Internationales Afrikaforum 4/1995, 31. Jahrgang, 377-380.