Charles Baudelaire: Salon de 1859. Texte de la Revue française établi avec un relevé de variantes, un commentaire et une étude sur Baudelaire critique de l'art contemporain par Wolfgang Drost avec la collaboration de Ulrike Riechers (= Textes de littérature moderne et contemporaine; Nr. 86), Paris: Editions Honoré Champion 2006, XXII + 899 S., ISBN 978-2-7453-1335-5, EUR 90,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Françoise Lucbert: Entre le voir et le dire. La critique d'art des écrivains dans la presse symboliste en France de 1882 à 1906, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2005
Isabelle Jansen / Friederike Kitschen (Hgg.): Dialog und Differenzen. 1789 - 1870 Deutsch-französisch Kulturbeziehungen, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010
Wolfgang Drost / Marie-Hélène Girard: Gautier et l'Allemagne, Siegen: Universitätsverlag Siegen 2005
Im Brief vom 14. Mai 1859 schreibt Baudelaire an Nadar. "J'écris maintenant un Salon sans l'avoir vu. Mais j'ai un livret. Sauf la fatigue de deviner les tableaux, c'est une excellente méthode, que je te recommande. On craint de trop louer et de trop blâmer, on arrive ainsi à l'impartialité."
Nach dieser Ankündigung einen 'Salon' zu schreiben, verfasst Charles Baudelaire fernab des wirklichen Geschehens in Paris und des am 15. April 1859 im Palais des Beaux-Arts eröffneten Salons, seine Salonbesprechung, die nur auf Erinnerungen und Aufzeichnungen eines kurzen Besuches im Salon basieren, im Hause seiner Mutter kurze Zeit später. In einer an Jean Morel ("Mon cher M***'"), dem Direktor der Zeitschrift, adressierten Briefform werden diese in der 'Revue Française' publiziert. Nach den "Salons" von 1845 und 1846 ist es seine dritte und letzte Salonbesprechung.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben sich Schriftsteller als Kommentatoren zur bildenden Kunst konsolidiert: Dominanz der literarischen Sichtweise in der Kunstkritik sowie Lebendigkeit in der Verbindung zwischen Literatur und den bildenden Künsten sind zu konstatieren. Das poetische Element und die poetischen Träumereien sind wesentliche und immanente Teile der literarischen Kunstkritik des 19. Jahrhunderts und bilden ein zentrales Kriterium innerhalb einer poetischen Lobrede auf ein künstlerisches Werk. Der Kunstkritiker wird tendenziell als Übersetzer von bildenden Künsten in das sprachliche Medium gesehen.
Baudelaires Kunstbesprechungen bilden ein Konstrukt von Kunstkritik und dichterischem Werk gleichzeitig. Die Beschreibung von Kunstwerken erlangt eine gewisse Freiheit und geht über das nur Gesehene und dessen einfache Wiedergabe hinaus. Wie sehr er diese Methode adaptiert, wird in der Salonbesprechung von 1859 evident.
Die conditio sine qua non von Baudelaires Kunstkritik ist die während der Betrachtung eines Kunstwerkes entstehende subjektive Regung im Menschen. Nur das Glücksgefühl im Rezipieren und die Reflexion des Empfindens konstituiert den Wert und die Schönheit von Kunst, das Kunsturteil eben. Baudelaires Kunstkritik definiert sich auf seinem von ihm selbst formulierten Satz: "Je me suis contenté de sentir". Der Schlüsselbegriff Baudelaire'scher Ästhetik ist die Imagination - "l'imagination". Dieser ist neben dem Konzept der ästhetischen Modernität, dem des "Genie", das zentrale Sujet der Salonbesprechung von 1859.
Die hier vorliegende Publikation, eine kommentierte Edition von Baudelaires Salon von 1859 - es handelt sich um einen Nachdruck des in der 'Revue française' erschienenen Originaltextes - besticht zuerst einmal durch ihren Umfang: Ein an Fülle geradezu explodierendes Werk von Anmerkungen und Kommentaren. Die Relationen sind erstaunlich. Dem Primärtext von Baudelaire (3-74) stehen ein zehnfaches an Anmerkungen und Kommentaren gegenüber (81-793). Reichhaltige Illustrationen mit ausführlichen Erklärungen und eine umfangreiche Bibliografie (805-872) ergänzen dieses Werk, das als fundierte und immense Quelle über das kunstkritische Frankreich des 19. Jahrhunderts gelten muss.
Der Übersichtlichkeit und Klarheit hätte es dennoch nicht geschadet, wenn die Kommentare und Anmerkungen zum Salontext direkt an ebendiesen angefügt worden wären und nicht, wie hier geschehen, auseinandergerissen werden.
In einem dem Salontext korrespondierenden Umfang sowie in der von Baudelaire grosso modo vorgegebenen Gliederung stellt Wolfgang Drost in sechs nicht nummerierten Kapiteln den Begriff der "Imagination" in der für Baudelaire vielfältigen Signifikanz dar: "Défense et illustration de l'imagination" , "La photographie", "Le portrait", "La peinture de paysage", "La sculpture" und "Positions esthétiques de Baudelaire".
Die Ausprägung Baudelaire'scher "Imagination" erfährt in angemessenem Rahmen ihre Entfaltung. In einem verdichteten, vernetztem Informationsgefüge aus Kunstgeschichte, Kunstkritik und für das 19. Jahrhundert eminenten Beziehung zu Literatur zentrieren Drost / Riechers den Kunstkritiker Charles Baudelaire. Ihnen gelingt eine verfeinerte aber auch kurzweilige Darstellung von Baudelaires kunsttheoretischer und ästhetischer Konzeption und die Einbindung in das 19. Jahrhundert.
Im ersten Kapitel wird Baudelaires Einstellung zur realistischen Ästhetik (84), zur Ästhetik der "Einfühlung" (86) sowie der damit im Kontext stehenden Gattungsproblematik dargestellt. Aspekte wie Landleben, die Theorie der Moderne, weiterhin das "l'infini", Definitionen von Fantasie und Imagination sowie Seitenblicke zur englischen Kunst prägen diesen Teil.
Wenn es um das Verhältnis zwischen dem Primat von Imagination und Fotografie sowie Porträt geht, wird von den Verfassern auch der entwicklungsgeschichtliche Aspekt über die Daguerreotypie und Fotografie im 19. Jahrhundert mit einbezogen, um Baudelaires Unbehagen und Abneigung gegenüber der aufkommenden "l'art industriel" zu beleuchten.
Die Relationen zwischen Kunst und Literatur, zwischen Baudelaires Poesie und Kunstkritik werden subtil herausgearbeitet (115) gerade in der Darstellung von Baudelaires Grundhaltung, dass Kunst nur eine Abstraktion des Details gegenüber dem Ganzen sei (107), die sich gegen die Fotografie und gegen eine die Natur imitierende Porträtmalerei richtet.
Das Kapitel über die Landschaftsmalerei demonstriert einmal mehr die Intention der Verfasser, Baudelaires Ästhetik ihren Platz innerhalb des 19. Jahrhunderts zuzuweisen. Sie spannen den Bogen ihrer Ausführungen von der akademischen Dogmatik, der eminenten Stellung von Landschaftsdarstellung im 19. Jahrhundert, der Romantik bis hin zum deutschen Idealismus. Und so schließen die Autoren denn auch ihre Ausführungen mit der Feststellung: Die Welt der Imagination des Poeten und der Salon von 1859 im Besonderen öffnen den Blick auf einen großen Kunstkritiker des 19. Jahrhunderts, der sich der Theorie der Moderne nähert (150).
Einziger Wermutstropfen für den Baudelaire-Interessierten: Gewünscht hätte man sich, gerade ob der eminenten Stellung dieses Bandes, dass die Brisanz der Zeitqualität von 1859 berücksichtigt worden wäre. Zu gewaltig sind in jenen Jahren die Ereignisse, seien es politische, kultur- und literaturhistorische oder die Person Baudelaires betreffende, die endlich auch Einfluss ausgeübt haben.
Dass Wolfgang Drost Baudelaires 'Salon de 1859' im Rahmen einer breit angelegten Ausgabe editiert, manifestiert nicht nur den herausragenden Stellenwert, den dieses kunstkritische Dokument als Paradigma für die französische Kunstkritik per se besitzt. Er fügt mit dieser kritischen Edition einen ganz besonderen Mosaikstein in seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der französischen Kunstkritik, mit dem Sujet von Kunst und Literatur im Allgemeinen und mit Baudelaire im Besonderen, hinzu. [1] Baudelaires Apotheose der Imagination steht sozusagen Drosts Apotheose über Baudelaire gegenüber. Nicht unerwähnt sei selbstverständlich Ulrike Riechers, die bereits an der deutschen Ausgabe des Gesamtwerkes Baudelaires [2] mitarbeitete.
Nachdem in den letzten Jahren einige interessante und beachtliche Publikationen erschienen sind [3], muss Baudelaires Salon von 1859 in dieser hier vorliegenden kommentierten Ausgabe allgemein als weiterer Meilenstein in der Baudelaireforschung gewertet werden. Vor allem aber auf dem Gebiet der noch recht brachliegenden Untersuchung über den Einfluss des Kunstkritikers Baudelaire und dessen ästhetische Kategorien wird sie als diesbezügliche Inspiration zu dienen in der Lage sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Wolfgang Drost: Kriterien der Kunstkritik Baudelaires. Versuch einer Analyse, in: Baudelaire, hg. von Alfred Noyer-Weidner, Darmstadt 1976, 410-442.
[2] Charles Baudelaire: Sämtliche Werke. Briefe, hgg. von Friedhelm Kemp / Wolfgang Drost / Ulrike Riechers, 8 Bde, München / Wien 1992.
[3] Karin Westerwelle (Hg.): Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg 2007. Der Band ist hervorgegangen aus der Vorlesungsreihe "Charles Baudelaire, Dichter und Kunstkritiker und Zivilisationsdiagnostiker" in den Semestern 2003-2004. Hans T. Siepe / Bernd Kortländer (Hgg.): Baudelaire und Deutschland - Deutschland und Baudelaire, Tübingen 2005.
Kristiane Pietsch