Dierk Hoffmann: Otto Grotewohl (1894-1964). Eine politische Biographie (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 74), München: Oldenbourg 2009, VII + 721 S., ISBN 978-3-486-59032-6, EUR 69,80
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Als der erste Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, am 21. September 1964 in Berlin starb, kam die offizielle Berichterstattung des "Neuen Deutschland" und der ost- wie westdeutschen Medien immer wieder auf den berühmten Händedruck zwischen Grotewohl und seinem Alter Ego bei der KPD, dem späteren DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, zurück. Gemeinsam mit Pieck hat Grotewohl im Frühjahr 1946 im Berliner Admiralspalast bekanntlich die Zwangsvereinigung der lange verfeindeten sozialistischen Bruderparteien SPD und KPD mit dem zur Ikone geronnenen Händedruck symbolkräftig besiegelt.
Dieses "zentrale Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte" (653) stellt der Berliner Historiker Dierk Hoffmann in den Mittelpunkt seiner massiven, detailliert aus den Quellen gearbeiteten Grotewohlbiografie. Der Handschlag, der das Bild des ehemaligen SPD-Politikers bis heute prägt, steht für den entscheidenden Wendepunkt in Grotewohls politischer Laufbahn und damit der Sozialdemokratie in der SBZ. In der Weimarer Republik hatte der ehemalige Unabhängige Sozialdemokrat zunächst in Braunschweig als Abgeordneter und Minister, sodann als Mitglied des Reichstags Karriere gemacht und war im "Dritten Reich" verfolgt und in eine prekäre Randexistenz gedrängt worden.
Was aber brachte den überzeugten Republikaner und Sozialdemokraten dazu, so lautet die Fragestellung der Arbeit, sich zum Erfüllungsgehilfen der Kommunisten und der ostzonalen Sowjetischen Militäradministration (SMAD) zu machen und dadurch zu einem Wegbereiter einer zweiten Diktatur auf deutschem Boden zu werden? Hatte sich Grotewohl noch im Herbst 1945 gegen den Vereinigungskurs massiv zur Wehr gesetzt, so übernahm er ab November 1945 die Positionen von SMAD und KPD. Auch wenn er Ulbricht verachtete bzw. fürchtete und zunächst auf Distanz zum starken Mann der späteren DDR hielt, biederte sich Grotewohl in den späten 1940er und 1950er Jahren auf jede erdenkliche Weise dem Kommunismus an und geriet, wie die gesamte DDR-Führung, in immer tiefere Abhängigkeit von Moskau. In Bausch und Bogen übernahm er als erster DDR-Ministerpräsident die grotesken Auswüchse des Stalinkults, dem er als "Größten aller lebenden Menschen", "sturmerprobten Vorkämpfer der Menschheit" und "größten Humanist unseres Zeitalters" auf geschmacklose Weise lobhudelte (528). So sehr war Grotewohl von seiner Rhetorik gefangen, dass er in privaten Aufzeichnungen (zu deren Quellenwert der Autor sich nicht äußert) für seine Frau sich ehrlich erschüttert am Sarge Stalins über dessen Ableben äußerte (529).
Zwei Schlüsselereignisse Ende 1945 spielten auf Grotewohls Weg vom Demokraten zum Parteigänger der Diktatur dem Autor zufolge eine entscheidende Rolle: Zum einen Kurt Schumachers auch von der Furcht vor dem Führungsanspruch der Berliner Konkurrenz mit geprägter und durch die westlichen Alliierten gestützter Kurs, eine gesamtdeutsche SPD-Organisation abzulehnen, wie auf dem Treffen von Wennigsen im Oktober 1945 deutlich wurde. Der dadurch "in die Defensive" (225) geratene Grotewohl habe so der SMAD gegenüber die gesamtdeutsche Karte nicht mehr ausspielen können. Zum anderen sei ihm in Karlshorst aufgrund seiner Ablehnung der KPD-Linie "unverhohlene Kritik an seiner Vorgehensweise" (möglicherweise auch physische Bedrohung) entgegengeschlagen. Weil er dadurch den Eindruck gewonnen habe, dass auch "seine Person zur Disposition stand", sei Grotewohl eingeknickt. Da eine Flucht in den Westen aus leider nicht näher erläuterten Motiven für ihn nicht infrage gekommen sei (234), habe er "offenbar nicht der Verlockung widerstehen [können], führende Ämter in der SED und im DDR-Regierungsapparat einzunehmen" (666).
Wie hier entscheidet Hoffmann im Zweifel stets gegen den Protagonisten. Er porträtiert den über einen einnehmenden Charme verfügenden Grotewohl als "konfliktscheu" (242), "mutlos" (241), als Funktionärsgestalt und waschechten Opportunisten, der um die eigene Haut zu retten und aus karrieristischen Gründen, seine früheren "Demokratievorstellungen" (386) verriet, und dann als "zahnloser Tiger" (237) solange zwischen den Lagern lavierte, bis es nichts mehr zu lavieren gab. Dennoch habe er nicht durch Unterlassen, sondern auch durch seine aktive Mitwirkung an der Verfolgung ehemaliger Sozialdemokraten zum Aufbau der SED-Herrschaft entscheidend beigetragen. Ohne Grotewohls Engagement, das er bei der Zwangsvereinigung der beiden Parteien und der anschließenden Beseitigung des sozialdemokratischen Milieus an den Tag gelegt habe, hätte in der späteren DDR die Machtergreifung der Kommunisten zwar nicht verhindert werden können - dem standen letztlich die von der Besatzungsmacht gesetzten Rahmenbedingungen entgegen -, sie wäre aber doch "konfliktreicher und langwieriger" verlaufen (14).
Für einen Biografen ungewöhnlich, betont Hoffmann in erster Linie die Diskontinuitäten in Grotewohls politischem Werdegang. Während Lebensbeschreibungen sonst eher einer frühe Prägungen rationalisierenden "biographischen Illusion" (Pierre Bourdieu) erliegen, erklärt der Autor Grotewohls Handeln allein aus dem jeweils aktuellen politischen Umfeld. Zwar wird angedeutet, dass die Weimarer Erfahrungen und die des Nationalsozialismus ein Faktor für Grotewohls Einsatz für die "Überwindung der Spaltung der Arbeiterklasse" gewesen sein mögen und ihn vermutlich die Hoffnung auf eine deutsch-deutsche Wiedervereinigung und sein "Festhalten am Ziel der deutschen Einheit" (386) dazu bewogen habe, sich den Kommunisten anzunähern und den KPD-Führungsanspruch zu akzeptieren. Allerdings hätte man sich stellenweise doch etwas ausführlichere und pointiertere Überlegungen erhofft zur Einschätzung der Grotewohl bewegenden Motive.
Dass Hoffmann vorsichtig argumentiert und vor prägnanten Urteilen zu den das politische Handeln Grotewohls leitenden Vorstellungen zurückweicht, hat primär mit der schwierigen Quellenbasis zu tun. Grotewohl hat kaum Selbstzeugnisse hinterlassen. Er ist überwiegend durch Reden und den amtlichen Schriftverkehr zu greifen sowie in den Erinnerungen und Darstellungen anderer. Daher bleibt der Protagonist merkwürdig blass, verschwindet nicht nur in dem zentralen, etwa ein Drittel des Umfangs ausmachenden Kapitel zur Gleichschaltung der SPD im Kontext der generellen politischen Geschichte der Zwangsvereinigung. Letztlich dient daher Grotewohls Wirken an der Spitze von Partei und Regierung als Sonde, um wichtige Teilaspekte der Geschichte von SED und DDR aufzuarbeiten. Dennoch wäre es beispielsweise interessant zu erfahren, ob Grotewohl, der bereits im Juni 1946 vor Schumacher und Adenauer seine "Magnet-Theorie" formulierte (292), tatsächlich an die Überlegenheit volksdemokratischer Systeme glaubte oder diese Argumente nur aus Opportunitätsgründen vortrug.
Der vorliegende Band schließt zweifellos eine Lücke in der DDR-Forschung, die sich bisher eher zögerlich auf das biografische Genre eingelassen hat, während die politische Geschichte der Bundesrepublik mit einer ganzen Serie von erfolgreichen Biografien erschlossen wurde. Hoffmann greift einleitend auf für die jüngere Biografik maßgebliche Konzepte und Ansätze zurück, wie "politische Generation", "Netzwerkanalyse", aber auch das klassische Fragemuster nach dem "Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft". Indes wird nicht deutlich, worin im vorliegenden Fall der spezifische Erklärungswert dieser Ansätze liegt, kommt der Autor doch nur punktuell auf diese Problemkonstellationen zurück und greift die allgemeinen Überlegungen zur Biografik in seiner Schlussbetrachtung auch nicht mehr auf. Eher schemenhaft bleibt die Anpassung des "Helden" an Habitus und Sprachstil der DDR-Führungsschicht, obwohl eingangs beherzt eine Berücksichtigung "sozial-, erfahrungs-, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen" gefordert wird (12). Auch dem Hinweis, dass Grotewohls Händedruck als Symbol der Zwangsvereinigung das Bild des Protagonisten in Ost und West über dessen Tod hinaus prägte, wird im Schlusskapitel nicht weiter nachgegangen.
Zwar bricht Hoffmann eine Lanze für die Biografie als vernachlässigtem Ansatz in der DDR-Geschichte. Doch könnte man angesichts der Schwierigkeiten, die sich bei der Analyse der Motive von Grotewohls Handeln eröffneten, einmal systematischer darüber reflektieren, inwiefern Biografien überhaupt einen geeigneten Zugang zur Geschichte der DDR-Führungsschicht darstellen bzw. sich als historische Darstellungsform für kommunistische Diktaturen generell eignen. Denn abgesehen von einigen wenigen, besonders herausgehobenen Figuren wie Stalin, Ulbricht oder Personen mit ungewöhnlichen Lebensläufen wie Albert Norden scheinen sich die Mitglieder der blassen Funktionärsschicht der östlichen Nomenklatura als Menschen und prägnante Persönlichkeiten auch aufgrund der Spezifika der Quellenüberlieferung einer biografischen Darstellung weitgehend zu entziehen. Ist also die Biografik ein "demokratisches Genre", weil in offenen Gesellschaften die Wege einzelner Individuen sich stärker als Projektionsfläche für die Hoffnungen aber auch die Befürchtungen der Menschen eignen?
Diesen Überlegungen und Einwendungen zum Trotz, die letztlich jenseits des Fragehorizonts von Hoffmanns höchst solider Grotewohlstudie liegen, handelt es sich um eine weiterführende Arbeit, die vor allem für die Erklärung der "KPD-Machtergreifung" an der Jahreswende 1945/46 als einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur deutschen Teilung und der dabei erfolgten Selbstanpassung ehemaliger SPD-Funktionäre einen gewichtigen Beitrag zur DDR-Historiografie leistet und darüber hinaus wichtige Einblicke in die Konsolidierung der prekären SED-Herrschaft in den 1950er Jahren eröffnet. Welchen entscheidenden Anteil hieran ein individueller Akteur wie Otto Grotewohl hatte, das hat Dierk Hoffmann in bisher nicht erreichter Breite und Tiefe dokumentiert.
Philipp Gassert