Rezension über:

Gerhard Henschel: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes (= Die Andere Bibliothek; 302), Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 2010, 371 S., ISBN 978-3-8218-6210-1, EUR 32,00
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Rezension von:
Florian Keisinger
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Florian Keisinger: Rezension von: Gerhard Henschel: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes, Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/17953.html


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Gerhard Henschel: Menetekel

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"Wie sollen wir diejenigen, die das Ende der Welt kommen sehen, davon überzeugen, dass andere, in der Vergangenheit, es auch schon so gesehen haben, und das in jeder Generation?" Mit dieser Frage Umberto Ecos beginnt Gerhard Henschel seine rund 3000-jährige Geschichte europäischer Untergangspropheten, von der homerischen Ilias, in der der greise Nestor als vermeintlich letzter Zeuge eine glanzvolle, alle späteren Zeiten überragende Vergangenheit beschwört, bis zu Altkanzler Helmut Schmidt, der in der Bild-Zeitung konstatierte: "Das Fernsehen macht uns brutal." (Was den Publizisten Max Goldt zu der Frage veranlasste, wer denn eigentlich mit "uns" gemeint sei: "Leute, die ich kenne, kann er nicht meinen. Die sind trotz mancher vorm TV verjuxten Stunde überwiegend milde und sachte. Dann meint er wohl sich und seine Frau. Wer hätte das gedacht: Helmut und Loki Schmidt - verroht durch stumpsinnige Serien. Schlagen alles kurz und klein, verbreiten Angst und Schrecken.").

Was haben der frühchristliche Schriftsteller Tertullian, der Reformator Martin Luther, der deutsche Marinedichter Gorch Fock und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz gemeinsam? Sie alle waren überzeugt, in Zeiten des kulturellen Niedergangs zu leben, wobei sich die Symptome des Zerfalls über die Jahrhunderte hinweg gleichen: Zu großer Wohlstand, ausschweifende Genusssucht, Verweichlichung des Einzelnen sowie eine allzu deutliche Laxheit in Fragen der Moral. Entsprechend groß war daher die Erleichterung Gorch Focks, als 1914 "der Segen des Krieges" den zahlreichen Lastern seiner Zeit ein jähes Ende bereitete: "Unser Leben war viel zu sinnlich, zu lüstern, zu weibisch, zu ausschweifend: da ist das Feld ein kalter, scharfer Wind geworden, der all dies Unkraut getötet hat. Das Geschlechtliche ist für Tausende mit einem Male nicht mehr der Angel- und Mittelpunkt ihres Daseins, und sie erkennen, dass die sogenannte Liebelei tatsächlich nicht das Beste am Leben ist." Ob Fock mit den Auswirkungen des Krieges auf die Menschen tatsächlich zufrieden gewesen wäre, lässt sich nicht feststellen; er selbst kam 1916 in der Seeschlacht am Skagerrak ums Leben. Sehr wahrscheinlich ist es jedoch nicht. Zumal auch Oswald Spengler in seinem "Untergang des Abendlandes" - der erste Band erschien 1918, Henschel widmet dem Buch ein eigenes Kapitel - zu einem anderen Ergebnis kommt; für ihn hatte der organische Zyklus der abendländischen Kultur sein schicksalhaft bestimmtes Ende so gut wie erreicht.

Andere wiederum, unter ihnen führende deutsche Nationalsozialisten, glaubten im Leben in der Großstadt ein Grundübel des modernen Menschen zu erkennen. Zuvor hatte bereits der berüchtigte Antisemit Theodor Fritsch - das war Ende des 19. Jahrhunderts - seine Zeitgenossen daran erinnert, dass die großen Städte "Pfuhle der Corruption" seien und die wahre Gesundheit des Volkes lediglich "auf dem Lande" zu finden sei. In ihrem berühmten Essay "Krankheit als Metapher" (1978) hat Susan Sontag auf die antisemitische Komponente der verbreiteten Gleichsetzung von Juden und Stadtleben hingewiesen. Gleichwohl zeigt Robert Gernhardt in einem seiner Gedichte, dass es auch andere Stimmen gibt; darin sehnt er sich vom sterbenden Wald in die große Stadt, denn: "Wer möchte schon leben / ohne den Trost der Hochhäuser!"

Fixpunkt aller Kulturpessimisten, von den frühen Kirchenvätern bis zu den politischen Diskussionen der Gegenwart, ist und bleibt jedoch der Untergang des römischen Großreiches. Zumal bereits die Zeitgenossen recht genau zu wissen schienen, welche Umstände ursächlich für den Niedergang des einstmaligen Imperiums waren. So urteilte der Historiker und Oberbefehlshaber der römischen Truppen im Orient, Ammianus Marcellinus, bereits im vierten Jahrhundert, dass die einstige Größe Roms auf seiner Härte sowie der Solidarität zwischen Reichen und Armen beruht habe; nun jedoch sei Rom verloren durch seinen Luxus und seine Habsucht. Ganz anders das Fazit von Edward Gibbon, dem großen Historiker des römischen Niedergangs: "Statt zu fragen, warum das Römische Reich zerstört wurde, sollten wir vielmehr darüber erstaunt sein, dass es so lange bestanden hat", so sein nüchternes Fazit. Luxus und Konsum waren für Gibbon jedenfalls nicht ausschlaggebend für den Untergang, sondern, im Gegenteil, Voraussetzung für den Wohlstand. Heutige Fachhistoriker suchen die Gründe für den Untergang Roms schon lange nicht mehr im sittlichen Bereich; sie verweisen auf eine komplexe Wechselbeziehung, zu der der Vertrauensschwund der Menschen gegenüber ihrem Staat ebenso zählt wie die Erosion militärischer Stärke, die zunehmende Instabilität des Steuersystems sowie der Rückgang vormals profitabler Handelsbeziehungen. So viel Differenziertheit ist von den Apologeten des Unterganges freilich nicht zu erwarten; das geflügelte Wort von der römischen Dekadenz als Ursprung des kulturellen und politischen Abstiegs hat nach wie vor Konjunktur.

Wer nun jedoch eine tiefgründige Analyse von "3000 Jahre Untergang des Abendlandes" erwartet, wird enttäuscht werden. Vielmehr handelt es sich bei Henschels Buch um einen gut lesbaren, über weite Strecken auf Anekdoten basierenden Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Kulturpessimismus, von der Antike bis in unsere Tage. Darüber hinaus ist das Buch eine wahre Fundgrube für Zitate, die im Gedächtnis haften bleiben. Und aus Sicht des Historikers gilt auch weiterhin, worauf Hans Delbrück bereits gegen Ende des vorvorangegangenen Jahrhunderts hingewiesen hat: Dass sich die vielbeschworene "gute alte Zeit" mit den Mitteln der Geschichte nicht ausfindig machen lässt.

Florian Keisinger