Wolfram Siemann: Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne (= C.H. Beck Wissen; 2484), München: C.H.Beck 2010, 128 S., ISBN 978-3-406-58784-9, EUR 8,95
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Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016
Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016
Es ist nach wie vor schwierig, über Metternich Eindeutiges gesichert zu sagen. Das Bild der "Erinnerung" ist historiographisch hoffnungslos getrübt, der neu aufzunehmende Weg zu den Quellen ist mühsam, fördert aber doch einiges zu Tage, was die Neubewertung einer Persönlichkeit ermöglicht, die nicht leicht zu fassen ist. Denn Metternich hat nicht allzu viel über sich und seine innersten Beweggründe ausgesagt, nicht nur, aber vor allem, weil ihn die Geschäfte zu sehr in Anspruch nahmen. Schon 1844, als sich sein Scheitern an allen Fronten abzeichnete und er erkennen musste, dass ihn niemand mehr verstand, schrieb er: "Die Männer, welche selbst Geschichte machen, haben nicht Zeit, sie zu schreiben. Mir wenigstens fehlte es daran." (117). Und doch ist der "Kutscher Europas" wieder einmal aktuell, nicht weil sich 2009 sein Geburtstag jährte und 2015 des Wiener Kongresses zu gedenken ist, sondern weil Europa neuerdings an einer Zeitenwende steht, die an jene erinnert, als die Lebenswelt des Ancien régime unterging und der Weg in die "Moderne" sich zu öffnen begann. Eine derart universalistische Perspektive bietet die Chance, eine neue Beurteilungsgrundlage zu gewinnen, wenn es gelingt, zwischen dem "Zeitgeist" und den "Maximen" der handelnden Persönlichkeiten einen Zusammenhang sichtbar zu machen.
Die ohnehin müßigen, weil mit "sowohl, als auch" zu beantwortenden Methodendiskussionen hinter sich lassend, bekennt sich der Autor des vorzustellenden Werkes zum Genre der "politischen Biographie": "Wenn [...] willenstarke Persönlichkeiten überhaupt den Verlauf der Geschichte beeinflussten, so waren das 'Napoleonische Zeitalter' und die 'Ära Metternich' dazu angetan, die ihre Signatur der Person verdankten." (117). In diesem unspektakulären Ansatz, mit den persönlichen Überzeugungen, Reaktionen und nicht gegebene Antworten den Schlüssel zum Verständnis der großen Fragen eines Zeitalters zu finden, liegt der methodische Gewinn der ambitionierten Studie.
So wie es keine diplomatische Zufallskonstellation war, dass Großbritannien und Österreich mit der "Wiener Ordnung" von 1815 für Europa eine zumindest bis 1854 dauernde Friedensepoche einleiteten, so ist es nahe liegend, dass heute nach dem Briten Alan Sked mit Wolfram Siemann ein Deutscher im Gedenken an dieses Kunstwerk der Gleichgewichtspolitik erinnert. Der eine deckt in Form einer "Evaluation" die vielen Ungereimtheiten in der unglaublich langen Liste der traditionellen Beurteilungen auf, entlarvt sie als nationalliberale Vorurteile. Der andere beginnt von ganz vorne im Familienarchiv, heute im tschechischen Nationalarchiv in Prag (Praha). Beide anerkennen, dass trotz des deutschnationalen Schlagschattens das profundeste Urteil von einem Historiker stammt, dessen Nähe zum Nationalsozialismus unleugbar ist, der aber gerade aus dem Wahnsinn des neuen Nationalismus der Zwischenkriegszeit und dem Taumel des Machtrausches, der im Begriffe stand, Europa in den Zweiten Weltkrieg zu führen, den Forscherblick auf den Ursprung der Tragödie Europas richtete und dabei bei Metternich landete. Der österreichische Staatskanzler hatte als philosophisch und staatswissenschaftlich umfassend gebildeter Politiker die Ambivalenz der Aufklärung in Theorie und Praxis erkannt und die Begleitkosten der Fortschrittsideologien des Nationalismus und Kapitalismus vorausgesehen.
Die Studie von Siemann ist als Ankündigung für eine "große" Biographie zwar nur ein "Büchlein", und doch gelingt es dem Autor in einer meisterhaften Konzentration, alles an Problemen aufzugreifen, was den "unzeitgemäßen" Reaktionär zu einer der großen Gestalten der europäischen Geschichte machte. Es ist eine Meisterleistung, auf 121 Seiten alles von der Öffentlichen Wahrnehmung bis zur Würdigung der Person aufzugreifen, was politisch und biographisch an Problemfeldern zur Diskussion steht, darüber hinaus noch eine relativ dichte Zeittafel, ein repräsentatives Verzeichnis der gedruckten Quellen und der neueren Literatur und dankenswerterweise sogar ein Personenregister hinzuzufügen.
Das Meisterstück und der frühe Höhepunkt des 1809 als Außenminister nach Wien Berufenen war der Wiener Kongress. Wie sein Vorgänger Philipp Stadion hatte auch er durch Diplomatie und militärische Koalitionen an der Niederringung Napoleons mitgewirkt. Als es aber darum ging, eine neue Ordnung zu stiften, ging es ihm nicht nur um Mächtebalance und um Restauration der vorrevolutionären Ordnung: "Die 'moralische Pentarchie' auf internationaler Ebene sollte nicht lediglich auf Mächtebalance beruhen, sondern einen höheren moralischen Zweck befolgen." (53). Um dieses System von "Recht und Ordnung" gegen "Vernunft und Konkurrenz" zu sichern, bedurfte es einer "gerechten" Neuordnung des Staatensystems und der Gesellschaft. Politischer Bezugspunkt dieser Neuordnung war für Metternich das, was die neuere Forschung als "komplementäre Staatlichkeit", wie sie in klassischer Form im alten Deutschen Reich und in der Habsburgermonarchie verkörpert war, definiert hat. Dass beide Bereiche, Staatensystem und Gesellschaftsverfassung, einer Reform bedurften, dem hat sich Metternich nicht verschlossen. Aber die Realität, mit der er sich auseinandersetzen musste, begnügte sich nicht mit Reformen, sie schrie nach Revolution. Das betraf die rasch sichtbar werdende Machtpolitik der Großmächte, die Forderung der Nationalitäten nach dem Nationalstaat und die frühliberale Forderung nach Repräsentation des Volkes im Rahmen einer Verfassung. Das waren für Metternich Grundsatzfragen, seit er die Leitung des von ihm geretteten Österreichischen Kaiserstaates inne hatte, aber auch Fragen der Praxis. Auf die Forderung einer Konstitutionalisierung Deutschlands und Österreichs antwortete er 1820: "Ja aber wie handeln! Großer Gott! Binnen drei Wochen Deutschland eine gute amerikanische Verfassung zubilligen, so Österreich ein Beispiel geben und die Nachbarn zwingen, ihm zu folgen! [...] Und dies bei acht oder zehn verschiedenen Nationen, die alle ihre eigene besondere Sprache sprechen und eine die andere hasst!" (61). Es wird schon so gewesen sein, dass Metternich grundsätzlich an der Urteilskraft des "Volkes" zweifelte. Aber für die wirklich Gefährlichen hielt er jene, die dieses Volk manipulierten, ohne dass sich ersteres wehren konnte, die Rechtsanwälte, Literaten, und Journalisten, "also die Ideengeber und Wortführer, welche die Massen manipulierten". (62)
Ähnlich war es mit der scheinbar unangemessenen Reaktion Metternichs auf die Ermordung des in russischen Diensten stehenden Agenten Augusts von Kotzebue durch den Burschenschafter Carl Sand 1819. Der politische Mord aus Überzeugung war für Metternich natürlich auch eine Grundsatzfrage: "Der Mord ist eine sehr schlechte Waffe; Blut schreit nach Blut und es ist in seiner Natur, das, was es berührt, zu beschmutzen und nicht zu reinigen. Gott helfe der armen Menschheit!" (65). Die Einrichtung und Tätigkeit der "Mainzer Zentraluntersuchungskommission" richtete sich allerdings realiter nicht gegen Einzeltäter, sondern gegen ein Netz des internationalen Terrorismus von Cadiz über Mailand, Budapest und Krakau bis St. Petersburg und London, das Metternich nicht erfinden musste, um einen Vorwand zur Verfolgung der "Demagogen" zu haben.
Dramatischer war die Verschärfung des Konfliktszenarios der internationalen Politik mit den Höhepunkten des Griechischen Freiheitskampfes 1821, der Julirevolution 1830 und der Orientalischen Krise 1840/41. Auf den Londoner Konferenzen gelang es Metternich noch einmal, den offenen Kampf der Großmächte um die Aufteilung des Osmanischen Reiches durch eine Vertragsregelung zu verhindern. Aber das Zeitalter des von Metternich, Castlereagh und Hardenberg verkörperten "public law of Europe" mit vornationalem Charakter war zu Ende, Thiers, Palmerston und nach ihnen Gorčakov, Cavour und Bismarck setzten sich mit der Idee des "international law" konkurrierender Nationalstaaten durch.
Ob Metternich aus persönlichem Versagen auch innenpolitisch scheiterte, ist schwer zu beurteilen, weil die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des vormärzlichen Österreich kaum erforscht ist. Siemann sieht in Metternich einen "verhinderten Reformer" (103 ff.), der sich gegen das "System Ferdinand", die von seinem Gegenspieler Kolowrat-Liebsteinsky protegierte böhmische und ungarische Ständeopposition und die Machtrivalität der Erzherzöge nicht durchsetzen konnte. Was der Autor an Reforminitiativen Metternichs im nationalen, administrativ-politischen und wirtschaftlichen Bereich auflistet, ist jedenfalls ausreichend, um das Verdikt in Frage zu stellen, dass für den zähen Kämpfer gegen den Ungeist der Zeit "die nationale und freiheitliche Tendenz des Jahrhunderts schlechterdings nur als zerstörende Kraft" existierte (108).
Zur Größe Metternichs als Staatsmann von europäischem Format gehörte seine Einsicht, dass Wollen und Können letztlich nicht in Übereinstimmung zu bringen waren, wenn die Verhältnisse so schwierig waren wie in der Habsburgermonarchie, an deren Existenzberechtigung Metternich glaubte. Ohne die Frage dieser Existenzberechtigung definitiv zu beantworten, schließt sich Siemann dem Urteil Metternichs an: "Die 'komplementäre Staatlichkeit' in Mitteleuropa schien ihm eher den Frieden zu verbürgen als die rivalisierende Potenz der Machtstaaten. Die europäische Geschichte hat bis in die Gegenwart der europäischen Union gezeigt, dass dieses Prinzip realistischer, sachgemäßer und verträglicher war und ist, als Politik nur auf der Ebene nationaler Staaten zu organisieren." (116)
Dieses Urteil beruht auf einer beeindruckenden Materialfülle und einer stringenten Argumentation, die unter Berufung auf die Primärquellen die dahinter stehende Forscherleistung aufzeigt. Aus der Perspektive der Folgen dessen, was Metternich nicht verhindern konnte, wäre dem Buch zu wünschen, dass es eine Diskussion provozierte. Leider ist zu befürchten, dass eine solche nicht stattfindet, weil nur in engeren Fachkreisen das Bewusstsein vorausgesetzt werden kann, dass die Wurzeln der "Urkatastrophe" Europas ins Zeitalter Metternichs zurückreichen.
Helmut Rumpler