Rezension über:

Alix Cooper: Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2007, XIII + 218 S., ISBN 978-0-521-87087-0, USD 90,00
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Rezension von:
Cornel Zwierlein
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Cornel Zwierlein: Rezension von: Alix Cooper: Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/17054.html


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Alix Cooper: Inventing the Indigenous

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Die jüngere internationale Naturgeschichtsforschung hat starke Impulse aus der Fokussierung des Verhältnisses von 'Empire & Science' bezogen: schon Mary Louise Pratt hatte mit ihrem Buch 'Imperial Eyes' den Akzent auf die Frage gelegt, wie die prima facie rein wissenschaftlichen naturhistorischen Erkundungsfahrten von Europäern in alle Welt seit dem 18. Jahrhundert doch stets im unsichtbaren Rahmen imperialer Bedingungsgefüge stattfanden, auch wenn sie nicht selbst Akte direkter politischer Herrschaftsausübung waren. Londa Schiebinger hat hier weiter nach den Selektionsmechanismen im Transfer von Wissen über außereuropäische Pflanzen nach Europa gefragt und gezeigt, wie manch indigenes Wissen - etwa über die abtreibungsförderliche Wirkung von Pflanzen - die Selektionsschwelle europäischer Moralcodes nicht zu überschreiten vermochte. Richard Drayton hat gezeigt, wie die botanischen Gärten im British Empire von der Zentrale aus in Kew's Garden als ein globales Netzwerk von Wissenserfassung über die Pflanzenwelt fungierte; botanische Gärten waren nicht wie heute eher Museen für lebende Ausstellungsstücke mit Erholungsfunktion, sondern wichtige clearing-Stellen für Wissen über potenzielles 'grünes Gold'. Lisbet Koerner schließlich hat in ihrer intellektuellen Biographie von Carl Linné / Linnaeus den Blick zurückgelenkt auf die Motivationsgefüge, die hinter dem Ausgreifen in die Welt standen: sie hat Linnaeus als schwedischen Kameralisten wiederentdeckt, dessen Motivation oder zumindest auch Legitimation in der Suche nach geldwerten Rohstoffen, Pflanzen, die nahrungsmehrend in Schweden anbaubar wären, hinter den in der Wissenschaftsgeschichte meist im Vordergrund stehenden Innovationen im Bereich der Klassifikation und botanischen Systematik stand.

Alix Cooper nimmt mit ihrem schmalen, aber dichten Buch diese Tendenzen auf und spitzt die zuletzt in der Forschung bedeutsam gewordene gegenläufige Verknüpfung von Globalisierung und lokal-nationalen Anwendungsfixierungen zu: Der Titel wäre mit "Erfindung des Heimatlichen" zu übersetzen, nicht mit "Erfindung des Indigenen". Gemeint ist, dass das globalisierende Ausgreifen der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts einen in der jüngeren Geschichte zuweilen vernachlässigten gegenläufigen Effekt in der Stimulation der Erforschung der lokalen, heimatlichen Natur hatte. Man las über Forschungsexpeditionen in Übersee und schwärmte in die sächsischen und fränkischen Fluren aus, um die heimische Natur genauer zu erkunden und zu verzeichnen, als es bis dahin gelungen war. Das Thema des Buches ist also die Entwicklung der lokalen Flora-Bücher, die seit dem 16./17. Jahrhundert in Europa entstanden.

Cooper zeigt im ersten Kapitel, dass schon bei Paracelsus und im Paracelsismus die Hochschätzung für spezifisch deutsche Pflanzen, Kräuter und ihre Heilwirkungen stark war. Dann studiert sie insbesondere die Botanik-Tradition der Altdorfer Universität seit Ende des 16. Jahrhunderts. mit Ludwig Jungermanns und Caspar Hofmanns Catalogus plantarum der umliegenden Naturlandschaft, aber auch mit Bezug zum 1626 gegründeten botanischen Garten der Universität. Hauptadressaten der lokalen Flora-Bücher waren stets Mediziner, denn es ging um die Wirkkräfte der Pflanzen, und meist war hierbei auch der hippokratisch-galenische Rahmen bedeutsam, wonach die klimatische Verortung der Pflanzen im Hinblick auf die Empfänglichkeit der Menschen der Region für die Heilkräfte zentral war. Freilich waren lokale Flora-Werke, wie überhaupt naturhistorische Werke der späteren Neuzeit von der überbordenden Informationsdichte der älteren Renaissance-Naturgeschichte befreit; es waren "bare enumerations of names and places" (79) - mit der wichtigen Zusatzbestimmung, dass es auf die lokale Verortung ankam: "crescit", "habitat" mit Ortsangabe figurierte als räumliche Radizierung des Vorkommens der Pflanze; diese Verortung der Pflanzen war eine Art Nukleus späterer pflanzengeographischer Ansätze.

In einem weiteren Kapitel zeigt Cooper vor allem auf der Grundlage der Erlanger Trew'schen Handschriftensammlung, wie die botanische Naturkunde mit der frühen mineralogischen Erkundung von Versteinerungen und 'schrifttragender' Steine Hand in Hand ging. Cooper behandelt weiter den engen Austausch zwischen englischen und deutschen Intellektuellen Ende des 17. Jahrhunderts sowie die Rezeption des Bacon'schen Wissenschaftsprogramms etwa durch den Schweizer Scheuchzer, der es meinte sofort für den lokalen Gebrauch transformieren zu müssen, da die deutschsprachigen Lande nun einmal nicht den kolonialen Hintergrund hätten: hier explizit reflektiert ein Grund für die 'Re-Lokalisierung' von Naturgeschichte (135). Nichtsdestoweniger erfasst Scheuchzer auch die Schweizer Naturgeschichte im Abgleich mit der ganzen verfügbaren naturhistorischen Literatur, die in kolonialen Zusammenhängen in den verschiedenen Erdteilen inzwischen verfasst worden war (156-166). So sehr Linné und seine Jünger die lokalen Naturgeschichten aus der Perspektive der Klassifikationsentwicklung verurteilten, so wenig führte dies zum Untergang des Genres: vielmehr waren die meisten lokalen Florae um 1800 schon in das Linné'sche System konvertiert und bis heute bleiben Lokal-Florae ein gängiges Genre der Botanik. Dieses Genre aber entstand im Kontext der deutschen frühneuzeitlichen Territorial-Pluralität. Während die meisten wissenschaftshistorischen Untersuchungen zur Naturgeschichte auf die westeuropäischen Länder mit ihrem Kolonialbezug fixiert sind, zeigt Cooper hier eine andere Realität auf, die quantitativ wohl erheblich bedeutsamer war.

Auch methodisch ist ihr Buch, bei dem man sich manchmal etwas mehr Freiheit zur Ausführlichkeit anstatt rigiden verlagstechnischen Minimalismus gewünscht hätte, in allgemeiner Hinsicht von Bedeutung, denn sie führt ein interessantes frühes Phänomen von 'Glokalisierung' (Roland Robertson) vor, ein gleichsam dialektisches Interdependenzverhältnis von europäisch-expansivem Ausgreifen in der Globalisierung und einer rückwirkenden Tendenz, der Lokalismus verstärkt: Dies ist ein Ansatz und eine Frage, die sogar weit jenseits des Anwendungsfalls der frühneuzeitlichen Naturgeschichte richtungsweisend sein könnten.

Cornel Zwierlein