Sandra Leukel: Strafanstalt und Geschlecht. Geschichte des Frauenstrafvollzugs im 19. Jahrhundert (Baden und Preußen) (= Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der Separierung, Verwahrung und Bestrafung; Bd. 2), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 349 S., ISBN 978-3-86583-420-1, EUR 49,00
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Die deutschsprachige Gefängnisgeschichtsschreibung hinkte im internationalen Vergleich lange Zeit hinterher. Erst in den letzten Jahren sind nacheinander mehrere Studien zur Gefängnisreform sowie zum Strafanstaltswesen erschienen. Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive wurde für den neuzeitlichen Strafvollzug bislang allerdings nicht konsequent und allenfalls punktuell verfolgt. Die Bielefelder Dissertation von Sandra Leukel hat sich dieses Desiderats angenommen und sich auf die Suche nach den Anfängen des Frauenstrafvollzugs begeben. Mit Baden und Preußen wählte die Verfasserin dafür zwei der im 19. Jahrhundert auf der Ebene der Gefängnisreform führenden deutschen Staaten aus.
Im Zentrum der Studie steht die Frage, ab wann man von einem spezifischen Frauenstrafvollzug sprechen kann und welche geschlechtsspezifischen Strategien und Argumentationsmuster damit verbunden waren. Sandra Leukel untersucht dafür die zentralen Expertendebatten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis ins Kaiserreich. Am Beispiel der "Weiberstrafanstalt Bruchsal" gibt sie anschließend einen Einblick in die Ordnung der Anstalten, die den Alltag der weiblichen Inhaftierten prägte. Neben Zahlen zu Insassen, Deliktstruktur und Personal konkretisiert sie dabei anhand einiger weniger ausgewählter Biografien von Verurteilten den Weg in das Gefängnis, die Haftbedingungen sowie die weiteren Schicksale nach der Entlassung.
Obwohl die strikte Trennung der Geschlechter bereits eine zentrale Forderung der frühen Anstaltsreformschriften aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert darstellte, um die sittliche Ordnung aufrechtzuerhalten und disziplinierend auf die Gefangenen einzuwirken, gingen die Behörden erst in den 1830er Jahren dazu über, separate Frauengefängnisse einzurichten. Wie die Studie im Kontext der ersten Anstalten im schlesischen Sagan und im badischen Bruchsal jedoch verdeutlicht, wurde damit keineswegs eine frauenspezifische Haftform angestrebt. Vielmehr konzentrierten sich die ganzen Bemühungen darauf, einen dem Reformideal der Einzelhaft entsprechenden Männervollzug umzusetzen. Die Lösung eingeschlechtlicher Anstalten entsprang dabei eher pragmatischen, fiskalischen Überlegungen.
Erst in den 1860er Jahren, so Sandra Leukel, schaffte es die Frage, wie der Strafvollzug bei Frauen auszugestalten sei, als eigenständiges Thema auf die politische Agenda. Nachdem Männer, die ihre Strafe in der als härter eingestuften Einzelhaft verbüßten, vergleichsweise kürzere Strafen erhielten, wurde diese Ungleichbehandlung gegenüber Frauen in Gemeinschaftshaft zu einer Frage der Rechtsgleichheit erhoben. Die Anfänge der Frauenbewegung und insbesondere das politische Wirken der vaterländischen Frauenvereine macht die Verfasserin dafür verantwortlich, dass Frauen nun auch in den Strafvollzugsdebatten als Staatsbürgerinnen in den Blick gerieten. Das Argument der Rechtsgleichheit begründete aber gerade nicht eine völlige Angleichung der Haftbedingungen, sondern führte dazu, dass nun erstmals grundsätzlich über geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Ausgestaltung des Vollzugs diskutiert wurde, um einer "naturgegebenen" schwächeren körperlichen Konstitution der Frau Rechenschaft zu tragen.
Im Kaiserreich gewann die Frauenfrage im Strafvollzug weiter an Bedeutung und führte zu einigen konkreten Reformen. Obwohl die Straffälligkeit von Frauen statistisch gesehen weit hinter der männlichen rangierte, rief weibliche Kriminalität und die dabei zutage tretende Widersprüchlichkeit der Geschlechterbilder in der bürgerlichen Gesellschaft besondere Ängste hervor: Einerseits schien die zugeschriebene moralische Schwäche Frauen geradezu für Kriminalität zu prädisponieren, anderseits bestimmte das Ideal der Sittlichkeit die Rolle der Frau. Die Debatten und Reformen kreisten daher vor allem um den Aspekt der weiblichen Ehre, das heißt der Vollzug hatte insbesondere auf die körperliche Integrität der Inhaftierten Rücksicht zu nehmen. Weibliches Personal von der Aufseherin bis hin zum neu eingeführten Posten der Oberin sollte dies garantieren. Der Frauenstrafvollzug wurde ganz darauf abgestellt, weibliche Straffällige sittlich und moralisch zu erziehen, und das zu einem Zeitpunkt als pathologische Verbrecherbilder der Kriminologie das Erziehungsideal völlig in Misskredit gebracht hatten. Wie Sandra Leukel überzeugend darlegen kann, verliefen Reformkonjunkturen im Frauenstrafvollzug nahezu antizyklisch zu den großen, auf männliche Verurteilte fokussierten Gefängnisreformen.
Nachdem sich die Studie ganz auf die Frage nach den Spezifika des Frauenstrafvollzugs konzentriert, enthält sie sich fast vollständig einer kritischen Diskussion altbekannter Interpretamente aus der Gefängnisgeschichte wie der Foucaultschen Disziplinarthese oder Goffmans Konzept der "totalen Institution". Dies ist durchaus erfrischend, doch bleibt im Anschluss an die Lektüre der vorliegenden Studie weiterhin offen, welche neuen, alternativen Wege die Gefängnisgeschichte in Zukunft einschlagen kann. Sandra Leukel ergänzt die klassische Analyse der Reformdebatten durch einen mikrohistorischen Zugriff, der jedoch tendenziell narrativ blass und argumentativ konturlos bleibt. Die "Innenansichten" der Strafanstalt gehen nur vereinzelt über die festgelegten Ordnungen und Perspektiven der Reformer hinaus. Über die alltäglichen Konflikte und Unordnungen erfährt man wenig, wobei unklar ist, ob dies der Quellenlage oder der Anlage der Arbeit geschuldet ist. Inwiefern die Geschichte von Gefängnis und Strafvollzug anders erzählt werden kann, müssen andere Bücher weisen. Sandra Leukel kommt aber zweifellos das Verdienst zu, die geschlechtergeschichtliche Perspektive auf die deutsche Strafanstaltsgeschichte übertragen zu haben, was längst überfällig war. Ihre These, dass der Frauenstrafvollzug nicht nur dem Männerstrafvollzug nachgeordnet war, sondern gleichfalls eigenen Logiken und Konjunkturen folgte, ist für die Forschung ein wichtiges Ergebnis.
Désirée Schauz