Sabine Damir-Geilsdorf: Die "nakba" erinnern. Palästinensische Narrative des ersten arabisch-israelischen Kriegs 1948 (= Literaturen im Kontext. Arabisch - Persisch - Türkisch; Bd. 26), Wiesbaden: Reichert Verlag 2008, 360 S., ISBN 978-3-89500-637-1, EUR 59,00
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Sabine Damir-Geilsdorf befasst sich in ihrer Studie mit palästinensischen Erinnerungen an die Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 und an den unmittelbar darauf folgenden ersten arabisch-israelischen Krieg. Diese Ereignisse sind unter dem Stichwort "Nakba" in das kollektive Gedächtnis der Palästinenser eingegangen. Ziel der Arbeit ist die Analyse palästinensischer Nakba-Narrative, d.h. also eine Untersuchung der Praktiken palästinensischer Erinnerungskulturen sowie der unterschiedlichen Narrativierungen des Geschehens. Erinnerungen an die Nakba werden, so schreibt Damir-Geilsdorf, "nicht nur in Offizial-, sondern auch in der Literatur, Populär- und Alltagskultur in verschiedenen Medien und Formen immer wieder re-produziert und performativ inszeniert: in verschiedenen Textsorten, Bildern, Symboliken und verschiedenen Arten von 'Aufführung', die Theater, Demonstrationen und Gedenkfeiern umfassen, welche erst durch das Wechselspiel zwischen Produktion und Rezeption ihre sinn- und identitätsstiftende Bedeutung erhalten." (4) Es existieren somit mehrere miteinander konkurrierende und in verschiedenen Medien vorgebrachte identitätsstiftende Narrative. Bisher ist diese spezifisch palästinensische Erinnerungskultur noch nicht in den Blick der Forschung geraten, zumal eine Art offizielles "staatliches" Narrativ der Ereignisse erst 2004 mit der Nakba-Website des State Information Service anlässlich des 58. Gedenktags der Nakba entstand.
Die Abhandlung nimmt nun dankenswerterweise die verschiedenen Inhalte palästinensischer Nakba-Erinnerungen und ihre Dynamik, Formen und Funktionen in den Blick. Es geht der Autorin um die Untersuchung und Darstellung der Pluralität, Konstruktivität und Dynamik palästinensischer Erzählungen von der Nakba. Im Zentrum ihres Interesses stehen die Narrativierungen des Geschehens in Form von Plotstrukturen, Topisierungen und bestimmte Perspektivierungen der so konstruierten Berichte.
Als Material dient Damir-Geilsdorf ein hinreichend breites Spektrum an historiographischen Quellen unterschiedlicher Verfasser und Textgattungen: Politiker- und Gedenkreden, Prosa und Lyrik, Predigten, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Websites etc. Ergänzt wurde dieses schriftliche Quellenmaterial durch 38 qualitative Interviews mit Palästinensern verschiedener ideologischer Ausrichtung.
Im Anschluss an eine erhellende Einleitung, in der das Konzept und die Fragestellung der Arbeit vorgestellt werden, erläutert die Verfasserin im zweiten Kapitel ausführlich und auf hohem Reflexionsniveau die wichtigsten von ihr benutzten Begriffe einschließlich der ihnen zugrunde liegenden methodischen Hinsichten. Insbesondere die Ausführungen der Autorin über die erinnerungstheoretischen Forschungsansätze zum kollektiven Gedächtnis und zur Verflechtung von Geschichte, Erinnerung und Gedächtnis können überzeugen.
Die beiden nun folgenden Hauptteile der Studie sind inhaltlich sehr gut begründet: Die Narrative der Nakba heben, so antizipiert Damir-Geilsdorf an dieser Stelle ein wichtiges Ergebnis ihrer Studie, bei aller Unterschiedlichkeit in der Regel zwei Aspekte hervor: 1. das Kriegsgeschehen mit dem Fokus auf Vertreibung und Flucht eines großen Teils der Bevölkerung; 2. den Verlust der 'Heimat'. Es ist natürlich sehr sinnvoll, dass die Autorin die weitere Einteilung des Buches diesem Muster anpasst.
In dem langen, überaus informativen und sehr gut strukturierten dritten Kapitel werden die palästinensischen Erinnerungen an die Nakba als Kriegsgeschehen thematisiert. Schlüsselereignisse stellen dabei die palästinensisch-israelischen Kriegshandlungen, die Flucht und Vertreibung sowie die Rolle der Briten dar. Die meisten Autoren und Interviewpartner benutzen sogenannte 'Fakten' - Anzahl der Flüchtlinge, Zahl der Toten, Größe des verlorenen Territoriums - ebenso als Argumente wie die Interpretation der Balfour-Erklärung, der Resolution 181 und die vermeintlichen Ziele und Absichten der Zionisten. Eine wichtige Rolle spielen natürlich auch Punkte wie Massaker, ethnische Säuberung, Brutalität und Inhumanität des Gegners. Dem wird in der Regel ein heroischer palästinensischer Widerstand entgegengesetzt, der nur am Mangel an Waffen gescheiter sei. Interessanterweise ist bei der Deutung der Flucht ein Generationskonflikt spürbar: viele jüngere Palästinenser werfen ihren Eltern bzw. Großeltern vor, nicht hinreichend genug Widerstand geleistet zu haben. Umstritten ist auch die Haltung der arabischen Armeen. Es ist unklar, ob man diese als Retter oder doch eher als Verräter zu betrachten hat.
Der zweite zentrale Teil des hier zu rezensierenden Werkes behandelt das in den Narrativen wiederkehrende Thema des Verlustes von Raum und 'Heimat'. Insgesamt gesehen sind die Palästinenser als transnationale, diasporische Erinnerungsgemeinschaft sehr inhomogen. Normalerweise wird Heimatlosigkeit von den Betroffenen jedoch als Charakteristikum von Palästinensisch-Seins aufgefasst. Allerdings sind offenbar große Unterschiede in der Deutung von Heimat bei den vor Ort lebenden Palästinensern einerseits und den palästinensischen Flüchtlingen andererseits zu beobachten. Die Erfahrungen von Exil, Heimatlosigkeit und Transnationalität werden, wie Damir-Geilsdorf ausgezeichnet nachzuweisen in der Lage ist, auf einer Metaebene reflektiert und selbst als Heimat bezeichnet. Die Bedeutungen, mit denen der (verlorene) Raum semantisch aufgeladen wird, können, wie die Autorin zeigt, sehr vielschichtig sein. Nostalgische und somit kontrapräsentische Erinnerungen, die Musealisierung eines "prä-Palästina' und eines Palästinas als 'Raum ohne Zeit', die Romantisierung der Vergangenheit in Erinnerungsbüchern und narrative Abbreviaturen in Form von Andenken und anderen Erinnerungsträgern sind gleichermaßen Bestandteil des kollektiven palästinensischen Gedächtnisses. Hinzu kommt noch eine ganz eigene Wahrnehmung von Landschaft als verräumlichter Geschichte. Konkrete Räume werden sowohl von den Palästinensern als auch von Israelis mit kultureller Bedeutung aufgeladen und dienen der Verfestigung und Dekonstruktion von "Heimat".
Im Anschluss an die beiden souverän präsentierten Hauptteile folgt noch ein sehr wichtiges fünftes Kapitel. In diesem konzisen Abschnitt kommt die Autorin auf die zahlreichen, überaus identitätsstiftenden Erinnerungen zu sprechen, die sich um Opfer- und Niederlagentopoi gruppieren. Damir-Geilsdorf systematisiert die Narrative, indem sie aus dem Fluss der narrativen Versatzstücke drei Erzählstränge isoliert: 1. eschatologische Deutungsmuster (Stichwort: der religiöser Krieg wird zur göttlichen Prüfung), 2. Revolutionäre Figuren (Stichwort: die PLO-Rhetorik stilisiert die Flüchtlinge zu 'Helden der Rückkehr', und 3. Martyriumskonzepte. Die Narrative der Nakba fungieren - dies führt uns die Autorin klar vor Augen - als Wahrnehmungsprisma und Deutungsmuster nachfolgender Ereignisse. Für die Palästinenser sind sie zugleich Referenzpunkt und Vergleichshorizont, sowohl für den Krieg von 1948 wie auch für die Geschehnisse während der beiden Intifadas.
Eine sehr gute Zusammenfassung, in der die divergierenden Deutungsmuster und Erinnerungsinteressen der unterschiedlichen Trägergruppen von Erinnerung noch einmal angeführt werden, und ein (vielleicht ein wenig zu lang geratener) Ausblick runden diese gelungene Abhandlung ab.
Stephan Conermann