Andreas Biefang: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871-1890 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 156), Düsseldorf: Droste 2009, 355 S., ISBN 978-3-7700-5296-7, EUR 49,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Otto von Bismarck: Schriften 1884-1885. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
Gian Enrico Rusconi: Cavour und Bismarck. Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus, München: Oldenbourg 2013
Lothar Gall (Hg.): Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001
Michael Schmid: Der Eiserne Kanzler und die Generäle. Deutsche Rüstungspolitik in der Ära Bismarck (1871-1890), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003
Johannes Janorschke: Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise von 1875, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
John C.G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941, München: C.H.Beck 2008
Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen, München: C.H.Beck 2023
Birgit Aschmann / Heinz-Gerhard Justenhoven (Hgg.): Dès le début. Die Friedensnote Papst Benedikt XV. von 1917, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019
Spätestens seit der monumentalen Arbeit von Ernst Rudolf Huber zur deutschen Verfassungsgeschichte, die dem Kaiserreich allein drei voluminöse Bände widmet, haben die meisten Historiker geglaubt, eigentlich alles über den Reichstag, seine Funktionen, seine Stärken und seine Schwächen zu wissen. Wer das Buch des Verfassers von vorne bis hinten gelesen hat, wird feststellen, dass dies mitnichten der Fall war. Profunde, stets ausgewogen argumentierend und immer wieder mit neuen Erkenntnissen aufwartend, zeichnet Andreas Biefang in seiner Studie ein facettenreiches, vielschichtiges und in vielem neues Bild der Vertretung des Volkes.
Um deutlich zu machen, dass es sich um einen anderen "approach" handelt, heißt die Einleitung nicht einfach "Einleitung", sondern trägt die Überschrift "Versailles und die Geltungsgründe des Kaiserreichs". Wer aber nun vermutet, dass anschließend in extenso die vielfach beschriebene und von Anton v. Werner kraftvoll in Szene gesetzte Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 beschrieben und analysiert wird, wird im positiven Sinne enttäuscht. Ausführlich behandelt Biefang hier viel klarer und erhellender den kaum bekannten Empfang der Delegation des Reichstags des Norddeutschen Bundes, die einen Monat zuvor, am 16. Dezember 1870, dem preußischen König in dessen Hauptquartier die Kaiserkrone antrugen, "um das Einigungswerk zu weihen". (7) Dass er dennoch auch die andere Seite, d.h. die "Kaiserproklamation" vom 18. Januar 1871, behandelt, ist selbstverständlich; gleichwohl, dieser Vergleich soll die "konträren Konzeptionen" (12) deutlich machen, mit denen der entstehende Nationalstaat legitimiert werden sollte: als Ergebnis des Volkswillens auf der einen, als "Ausfluss des freien Willens souveräner Monarchen" (ebd.) auf der anderen Seite.
Worum also geht es ihm? Im Prinzip will er das Spannungsverhältnis zwischen der umfassenden demokratischen Legitimation des Reichstags und seinen begrenzten Rechten analysieren, die "Frage nach Macht und Einfluss des Reichstag erneut [...] durchdenken." Anders als andere, eher juristisch bzw. politikgeschichtlich angelegte Arbeiten will er mit der "symbolischen Macht" dabei auch eine bislang vernachlässigte Quelle parlamentarischen Einflusses in den Blick nehmen.
Um diese Ziele zu erreichen, widmet Biefang sich in insgesamt vier großen Kapiteln unter dem Stichwort "Der Reichstag und die Ökonomie der Aufmerksamkeit" zunächst dem Wahlrecht, der "Konstituierung der Nation" - wie er es nennt - sowie der gesetzgeberischen Tätigkeit des Reichstages, um dann in einem zweiten Schritt den Reichstag als "öffentlichen Ort" zu beschreiben. Es ist frappant, was er in den Abschnitten über den Reichstag und die Presse, den "performativen Charakter der Reichstagswahlen", das "Reichstagsgebäude als politische Architektur" sowie das Verhältnis von Reichstag und Öffentlichkeit alles an neuen Erkenntnissen anbieten kann. Gleiches gilt für das dritte Kapitel "Der Reichstag als sozialer Ort". Pointiert schildert er hier den Übergang von den Honoratioren zum Berufspolitiker, untersucht die "Lebensform M.d.R", d.h. den Reichstag als Arbeitsplatz, Unterkunft und Verpflegung der Abgeordneten, aber auch "parlamentarische Geselligkeit und Freizeit" sowie die "Gemeinschaft der Abgeordneten und ihre Grenzen". Der vierte Abschnitt schließlich beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Reichstag und Regierung. "Bismarck und die Parlamentarier" sowie "Kaiser und Reichstag" sind hier die zentralen Themen.
Das Ergebnis dieser Arbeit, überschrieben mit dem durchaus programmatischen Begriff "Die andere Seite der Macht", ist überzeugend und lehrreich. Sine ira et studio resümiert Andreas Biefang hier die Ergebnisse seiner Arbeit, ohne aber ein abschließendes Urteil im Hinblick auf die so umstrittene Diskussion über die Macht des Reichstags zu scheuen. So weist er auf die Zugewinne an tatsächlicher und symbolischer Macht trotz der Bismarckschen Herrschaftstechniken, aber auch auf deren Grenzen hin. Zugleich deutet er an, dass unabhängig von der Frage, wie viele Parlamentarier tatsächlich an einer Parlamentarisierung interessiert waren, sich die Gewichte in anderer Hinsicht zu verschieben bzw. die Rahmenbedingungen zu verändern begannen. Der Lobbyismus der Partikularinteressen einerseits, die Veränderungen der Medienlandschaft um 1900 andererseits sind wohl tatsächlich wichtige, bisher viel zu wenig in den Blick genommene Faktoren bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach der Reformwilligkeit und Reformfähigkeit des Kaiserreichs. Um darauf eine Antwort geben zu können, wäre es daher umso wünschenswerter, dass jemand den von Biefang begonnen Faden aufgreift und weiterspinnt. Eine bessere Grundlage als diese mustergültige sowie klug bebilderte und daher in jeder Hinsicht sehr zur Nachahmung empfohlene Arbeit ist nur schwer vorstellbar.
Michael Epkenhans